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Zwischenfall in Lohwinckel

Titel: Zwischenfall in Lohwinckel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baum Vicki
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»Ich mache Sie verantwortlich dafür, daß bis morgen alles wieder in der Reihe ist –«, sagte er, es war eine sinnlose Phrase, und er richtete sie auch nicht an den scharfen Vorsitzenden des Betriebsrats, Birkner, sondern an den alten, unschuldigen und verwirrten Werkmeister Hockling, der sich bestürzt den Hosenboden kratzte.
    Es ist ein verrücktes Wetter an diesem Mittwoch, heiß wie im Sommer, Mitte Oktober, dünnste, blauweiße aufgefaltete Wolken über dem Himmel, die Luft dampfig, die letzten blauen Zichorienblüten am Straßenrand sehen zäh und ermüdet aus. Zwölf Uhr auf dem Kirchturm, der Mittwochsmarkt löst sich auf, niemand kann sagen, warum die Eier um zwei Pfennig gestiegen sind, Zwiebelschalen und zertretene Porreeblätter bleiben zurück, bis Herr Schmittbold mit seinem Besen erscheint und in kleinen Staubwolken alles zur Ordnung wirbelt. Der alte Pfarrer kommt aus der Kirche, die Schneiderin Ritting aus der Wassergasse hat ihm eine läßliche Sünde gebeichtet, sie nimmt ihn allzu oft in Anspruch, es ist das einzige Vergnügen ihres leeren Jungfernlebens. Die alte Frau Markus trägt ein lebendes Huhn, in ein Tuch gebunden, an den oberen Wall zu dem alten Flickschneider und Schächter Popp, der es nach jüdischer Vorschrift durch einen Schnitt in die Gurgel abschlachtet. Die Frau Bürgermeister, in verspätetem Weiß, geht die Prieler Straße hinauf zum Tennisplatz, sie tut es wegen der Figur. Aus dem Haus der Kreissparkasse kommt der erhitzte Herr Profet, kreuzt den mittagswarmen Platz und verschwindet im Tor des Rathauses, erbaut MDCXV, renoviert MDCCCCVII, er muß den Herrn Bürgermeister Doktor Ohmann sprechen, sofort, es ist von äußerster Dringlichkeit.
    »Als wenn die ganze Stadt auf dem Kopf stünde – ich lasse bitten –«, sagt Doktor Ohmann zu seinem Faktotum Haberlandt. Vor dem Papier- und Buchladen der Witwe Seelig drängt man sich, dort hängen Ansichtskarten von Leore Lania aus, süß, dunkelblickend und zauberfremd. Die Herren Beamten, auf dem Heimweg zum Mittagessen, verweilen nachdenklich davor, merkwürdig angebohrt von dem Gefühl, daß diese Frau, diese Diva, diese Person sich in faßbarer Nähe befindet. Persentheins Rehle schiebt über die Straße, mit einem Korb voll Suppenknochen, in ihrem blauen Overallchen – verrückt.
    »Haben Sie gehört, daß der Doktor die Lania operiert hat? Dreitausend Mark soll sie ihm geboten haben, wenn nichts zurückbleibt –«
    Im ›Weißen Schwanen‹ wird ein Bett frisch bezogen und ein Zimmer gebohnert, für Herrn Karbon, er hat es telefonisch für zwei Uhr mittags bestellt, die Schwanenwirtin ist in rasender Aufregung, sie legt weiße Strickdeckchen hin, wo immer sie einen freien Platz findet.
    Vier Minuten nach eins: Aus dem Gymnasium schießen die Buben, die geheime Versammlung beim Ententümpel kann beginnen. Melancholisch lächelnd reicht das Madönnchen am verstopften Stadtbrunnen ihrem Kindchen einen steinernen Apfel. Das zweite Postauto kommt durchs Tor, das Angermannshaus bebt, Herr Lungaus leidet an Kopfschmerzen, und im Schlafzimmer steht Peter Karbon und packt seinen zerbeulten Autokoffer, um das Haus zu verlassen.
    Peter Karbon war an diesem Mittwoch mit einem freien Kopf erwacht, ein gesunder Mann. Die Schulter schmerzte noch leicht, es war jene Sorte Schmerzen, die Karbon gern hatte, Reste überstandener Anstrengungen oder Abenteuer. Es gab wenig Zeitläufe in seinem Leben, in denen er ganz ohne solche Rückstände lebte – wie Buben immerfort zerschlagene Knie haben – und er fand solche Lebensstrecken immer langweilig. »Jetzt kann's losgehen«, sagte er sich demnach schon beim Zähneputzen.
    Der Entschluß, aus dem Angermannshaus auszuziehen, hing vage schon in der Luft. Eisenfest aber wurde er kurz nach neun Uhr morgens, als Peter am Verschlag vorbeikam und fand, daß Frau Persenthein seine Stiefel putzte.
    Sie kauerte da auf dem Boden, mit Streifen halben Lichts über ihrem Gesicht, das ein wenig abgeblaßt aussah, und hatte seinen breiten, braunen linken Schuh über die linke Hand gezogen, strich Schuhkrem darauf und rieb ihn mit gesammelter und ernsthafter Miene blank.
    »Was fällt Ihnen ein?« sagte er, unfreundlich vor Beschämung, nahm ihr den Schuh weg und machte sich selber über die terpentinduftende Arbeit. Übrigens nutzte das nicht viel, denn sie griff sofort nach dem nächsten Exemplar der Stiefelkolonne, die vor dem Verschlag aufgereiht stand, und kratzte den Straßenschmutz von Kola

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