Zwischenfall in Lohwinckel
der Brüderschaft ›Einigkeit‹, feiner Kopf, hat das elektrische Licht eingeführt seinerzeit und den Anbau beim Gymnasium durchgesetzt. »Finden Sie? Er soll sehr gut Geige spielen; ich überlege schon immer, ob es nicht doch möglich wäre, ihn zu meinen Kammermusikabenden beizuholen.«
»Nein – das geht doch wohl nicht – obzwar – Ein sehr gebildeter Mensch. Wenn auch – was macht übrigens das Fräulein Tochter? Alles wohl? Der Herr Verlobte auch, ja? Wird er denn nach der Hochzeit in Darmstadt bleiben oder sich hier niederlassen? Wir könnten einen andern Arzt brauchen, weiß Gott.«
»Na, diesmal soll unser Doktor es ja ganz gut gemacht haben, wie man hört.«
»Allerdings, es war ja auch eine große Chance für ihn. Na, fünfundzwanzig Prozent sind ihm immer noch gestorben, statistisch betrachtet, jawohl.«
»Na, Sie sind gut, Behrendt. Also Wiedersehen, ich schaue mir noch Burhennes Zaun an –«
Um zehn Uhr haben sich sämtliche Schüler der Anstalt in der Aula zu versammeln. Es riecht nach Wasserscheiteln, Wurststullen, geschmierten Stiefeln, es riecht undefinierbar nach Schule und Vierzehnjährigen. Putex hält eine Rede, die nicht so übel ist.
»… Daß ihr euch weigert, den Täter anzugeben, will ich nicht unbedingt verurteilen. Ich selber habe euch im Sinne der Gemeinschaft herangebildet und immer betont, daß die Schülerschaft des Gymnasiums eine Einheit bilden soll. Trotzdem kränkt es mich; es kränkt mich, daß ihr eine so rohe Tat, wie es die Vernichtung eines Obstbäumchens ist, mit eurem Schweigen, das heißt mit eurer Zustimmung deckt. Es kränkt mich –« Es kränkte ihn wahrhaft und tief, Herrn Direktor Burhenne, diesen fanatischen Züchter seltener Obstsorten, der allerdings bei der Aufzucht junger menschlicher Wesen mehr auf das Normale und Durchschnittliche aus war. Sein Quittenbäumchen war hin, Kummerfalten hingen kreuz und quer in seinem Bismarckgesicht … »Da denn der Täter nicht genug Ehrenhaftigkeit besitzt, sich selber zu melden und für sich einzustehen, hat heute nachmittag ab vier Uhr das ganze Gymnasium Strafarbeit. Jede Klasse hat sich in ihrem Klassenzimmer vollzählig einzufinden und bis sechs Uhr …«
Hinten beim Harmonium meldet sich der Vertrauensmann der Obersekunda: »Dürften wir Herrn Direktor vielleicht bitten, die Strafarbeit auf morgen zu verschieben? Heute ist unser Spiel.«
»Spiel? Ich habe Wettspiele jeder Art verboten. Wie ich höre, muß ich außerdem das Rauchverbot für die Oberstufen in schärfste Erinnerung bringen! Wer heute um vier nicht antritt, der –«
Plötzlich mischt sich Doktor Kreibisch dazwischen, Doktor Kreibisch, siebenundzwanzig Jahre alt, Turnen, Englisch, Erdkunde, der fortschrittliche Bürgermeister hat ihn von einer Waldschule hergeholt, die Buben lieben ihn, es geht das ungeheuerliche Gerücht, daß er drei Oberprimanern gestattet hat, ihn zu duzen – Doktor Kreibisch, unter dem bunten Glasfenster der Aula stehend, mischt sich also ein: »Es ist nämlich der vorgeschriebene Spielnachmittag, Herr Direktor. Die Buben hatten eine Art Schauturnen vor, Kürturnen am Reck, Faustball, Hundertmeterlauf. Sie haben den Boxmeister eingeladen, sie sind natürlich sehr aufgeregt. Wenn ich mich zum Fürsprecher machen darf –«
»Das scheint mir völlig indiskutabel. Der Boxmeister – Sie sehen, wohin ohnedies die Verrohung der Jugend führt. Ordnen in Zweierreihen. Abtreten.«
Die beiden Jungens Otto und Paul Profet haben dicke rote Ohren. Kolk ist dem jüngeren bisher auf dem Fuß gestanden, denn der ist ein Pimpelkind, eine Heulliese, ein Petzschwein, man ist nie sicher, daß er dicht hält. Auf der Treppe zeigt der Oberprimaner Gürzle ihm überdies seine riesige verschwitzte Faust. Ein blutrot getuschter Aufruf geht von Hand zu Hand: Geheime Versammlung nach ein Uhr am Ententümpel.
Indessen sitzt der Boxer Franz Albert in Profets Villa beim zweiten Frühstück – man frühstückt dort immerzu. »Ich versaue hier ganz«, sagt er melancholisch, vor seinem beladenen Teller sitzend und bedrängt von Frau Profets gehaltvollen Blicken.
Franz Albert war der unselbständigste Mensch, den es auf der Welt geben konnte. Er stand seit seinem siebzehnten Jahr unter der Zucht und Obhut seines Managertrainers Simotzky, er wurde gewogen, gefüttert, zum Ab- und Zunehmen gezwungen, für Kämpfe fertiggemacht, er wurde in den Ring gestellt, er wurde zurückgehalten, je nach der Konjunktur. Simotzky lief mit ihm, aß
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