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Zwischenfall in Lohwinckel

Titel: Zwischenfall in Lohwinckel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baum Vicki
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›Arbeiten‹, kommandierte Doktor Persenthein sich; es ging nicht sofort, aber es ging. Fast hätte er die Tappelsohlen überhört, die bei der Tür hereinkamen, Rehle, völlig nackt, hellbraun und mit den gutgearbeiteten kleinen Muskelwölbungen ihres hübschen Thorax.
    »Die Post, Kola«, sagte sie und legte ihm ein Paket auf den Schreibtisch. Es war eine ihrer Pflichten, den Postkasten zu entleeren, und sie war eigens noch einmal aus dem Bett gekommen, um dieses vergessene Geschäft nachzuholen.
    »Mutter verreist doch nicht, Rehle?« sagte er flehend. »Doch«, erwiderte Rehle. Der Doktor hob sie schnell auf seinen Schoß, er wußte sich gar nicht zu helfen, er suchte Schutz an ihrer warmen Knospenhaut. Rehle bettete sich in ihn ein und lag ganz still, kleines, atmendes, horchendes Tierchen.
    »Feuerwehr«, sagte sie, als er eben meinte, sie sei eingeschlafen. Der Doktor, der in Gedanken fortgewandert war, von der übersteigerten Elisabeth der letzten Tage zu der stillen mit dem Lächelgesicht aus siebenjähriger Ehe und weiter zurück, in die Brautzeit, in das Krankenhaus von Schaffenburg, er ein junger Assistenzarzt, sie eine weißblaue Säuglingsschwester – er erinnerte sich deutlich an eine schwere Eklampsie, von der er herauskam, als ihm Elisabeth zum erstenmal im Korridor der Klinik begegnete –, der Doktor fand sich zurück. Unten liefen Schritte vorbei, hallend unter dem Bogen des Angermannsturmes und eilig verklingend und wieder eingeholt von neuem Getrappel.
    »Was ist los?« rief er hinunter.
    »Es brennt in der Fabrik!« wurde geantwortet. Vom Spritzenhaus her wurde die Trompete deutlicher. Der Doktor empfand eine wunderliche Erleichterung bei diesem Signal und der erwachenden Unruhe auf der Straße. Gleichsam, als würde seine persönliche und private Geladenheit und Erregung aufgelöst und begründet in etwas Allgemeinem. Er lief mit Rehle auf dem Arm die Treppe hinauf, vom Schlafzimmer aus konnte man nach Obanger sehen. Der Schornstein der Fabrik stand schwarz gegen Rot, das helle, graurötlich wölkende Rot eines Dachstuhlbrandes. Der Himmel war eine gelblich scheinende Kuppel geworden, das Feuer sah aus der Entfernung sonderbar kompakt und unbeweglich aus, nicht wie Flamme, eher wie Lava, das kam von den dick ausquellenden Rauchwolken.
    »Fahren wir mit dem Motorrad hin, Kola?« fragte Rehle, die todschläfrig, aber voll erregter Unternehmungslust war.
    »Nein, ich muß zu Hause bleiben, damit sie mich finden, wenn jemandem etwas geschieht«, antwortete er gepreßt. Es wäre ihm leichter gewesen, Elisabeth zu Hause zu wissen als in der gefährdeten Vorstadt. Er hielt Rehle fest, die nackt auf der Fensterbank kauerte und das ferne Feuer anstarrte wie einen Weihnachtsbaum, der ihr zu Ehren angezündet war. »Fein – nicht, Kola?« murmelte sie einmal und rieb ihre Nase an der seinen, was in ihrer Sprache ein Negerkuß hieß. »Wenn nur Mutter schon zu Hause wäre«, antwortete er dringlich. Rehle blieb still, und nach einer Weile sanken ihr doch langsam die Wimpern wieder über die Augen, und diesmal schlief sie wirklich ein. Der Doktor merkte das Kind in seinen Armen schwer werden, hob es auf und trug es in sein Bett. Erika schlief dort schon, verbunden wie eine Mumie. Grade als er Rehle auf ihr Kissen legte, murmelte sie noch etwas.
    »Kannst die Tür offen lassen, wenn du dich fürchtest, allein zu schlafen«, sagte sie nämlich zu ihrem Vater in dem tröstenden Ton, den sie Erwachsenen gegenüber meistens anschlug.
    »Ja, ja. Ist gut, Mäusle«, sagte er lächelnd und hielt ihr Händchen noch fest, bis es ihm schlaftrunken entglitt. »Danke«, sagte er noch hinterher.
    Neun Uhr vorüber, und in der Fabrik brannte es noch, höher sogar als vorher, und unter dem Angermannsturm wanderten murmelnde und trappelnde Menschen hinaus, auch das Glühwurmgewimmel der Radfahrer zackte über die Straßen wie eine Woche vorher bei dem Autounglück. ›Wir werden die Unruhe gar nicht mehr los‹, dachte der Doktor, und das Wort Unruhe umschloß für ihn einen neuen und weiten Umkreis. ›Arbeiten‹, dachte er wieder, es war Flucht und Egoismus in dem Gedanken und der heftige Wunsch, die Unruhe nicht in die eigensten Bezirke, in die Welt der Idee, eindringen zu lassen.
    Als Doktor Persenthein wieder vor seinem Schreibtisch saß und den Stapel der minuziösen Nahrungstabellen aus drei Jahren des Experimentierens vor sich hatte, Hunderte von Notizen über den Fall Lungaus, kam ihm eine plötzliche

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