Zwischenfall in Lohwinckel
aufgab, ihr Vorwürfe zu machen.
»Wo warst du bloß, Nüßchen?« fragte er nur.
»Bei Großvater. Die Jungens haben ihn schrecklich geärgert, da bin ich hingegangen, ihn trösten«, sagte die optimistische kleine Person.
»Wie hast du ihn denn getröstet?« fragte der Doktor, und es wurde ihm viel angenehmer zumut, während er mit der kleinen Hand in der seinen ins Wohnzimmer ging.
»So – mit Zucker und Zitronensaft.«
»Aha«, sagte der Doktor und bekam wieder Hunger. Er wanderte wieder zurück in die Speisekammer, um das Tablett zu holen, Rehle neben sich.
»Schöne Schweinerei ist das«, sagte Rehle vor dem tropfenden Spülstein und machte das Hausfrauengesicht ihrer Mutter nach.
»Weißt du vielleicht, wo Teller sind?« fragte ihr Vater hoffnungsvoll.
»Natürlich«, antwortete sie; sie liebte es, sich gemessen auszudrücken, aber ihre Sprache war noch nicht ganz aus den Kinderkrankheiten heraus. Sie gab sich eine ungemeine Wichtigkeit, während sie ihrem Vater beim Tischdecken behilflich war, zuletzt mit den Knien einen Stuhl erklomm und sich ihm gegenüber setzte.
»Du müßtest längst im Bett sein«, sagte der Doktor, in ihr überwaches Gesichtchen schauend.
»Ich wollte bei Großvater schlafen, aber die sind ins Kino gegangen.«
»Was, die auch? Sind denn alle verrückt mit dem Kino?«
»Ja«, sagte Rehle kopfnickend.
»Höre, Rehle, was hat Mutter zu dir gesagt, bevor sie ins Kino gegangen ist?« fragte der Doktor aufmerksam.
»Weiß ich doch gar nicht mehr.«
»Na, denk mal nach, Mäuschen.«
»Nur so. Ob ich nicht krank werde? Na, ich werde doch nicht krank. Und ich soll brav sein, wenn Mutter verreist; natürlich werde ich da brav sein. Braucht sie mir gar nicht zu sagen.«
»Verreist – will Mutter denn verreisen?« fragte der Doktor, und die Hände fielen ihm flach auf das Tischtuch.
»Ich werde mich heute nicht mehr waschen. Nur Zähne putzen«, gab Rehle sachlich an.
»Ja, ja«, antwortete der Doktor, ohne es zu hören.
So winzig Rehle im ganzen genommen noch war, so hatte sie doch schon den Trick heraus, ihren Kola durch Berufsgespräche aufzuheitern. »Ist das kleine Kind auf die Welt gekommen?« fragte sie.
»Wie? Ja – das ist angekommen.«
»Hat die Frau sehr laut geschrien?«
»Na – es ging«, sagte der Doktor und hielt sich an dem glatten, schmalen Köpfchen der kleinen kameradschaftlichen Frau fest. »Du mußt jetzt schlafen, und ich muß arbeiten«, sagte er dann und schob sie von sich fort. »Ich muß nachdenken. Ich muß nachdenken.«
Aber als das Rehle draußen war, gelang ihm das Nachdenken nicht. Er zündete eine Zigarre an und ging in sein Zimmer hinunter. Dort begann er eine große Geschäftigkeit, tat viele nebensächliche Dinge, wie auf der Flucht vor der Hauptsache. Er nahm die Zettel aus dem Kartothekkästen und schichtete sie wieder hinein, legte im Instrumentenkasten die Skalpelle in eine neue Reihenfolge, schraubte den Operationsstuhl höher und wieder tiefer, umgetrieben und ratlos in dem Haus, das seinem Fragen und Rumoren eine fast boshafte Stummheit entgegensetzte. ›Ich werde arbeiten, bis Elisabeth kommt, und sie dann fragen, was los ist‹, dachte er, und bei dem Gedanken an ihr klares Gesicht wurde er ruhiger. Aber noch während er das Konvolut, an dem er arbeitete, aus dem Fach nahm und gedankenverloren den Titel mit roter Tinte nachzog: ›Das biologische Prinzip der Umstimmung und seine Beeinflussung durch diätetische Maßnahmen‹, wurde es ihm deutlich, daß Elisabeth seit Tagen verändert aussah, fieberhaft und flackernd. Es mußten nicht unbedingt die Lungenspitzen sein, die in ihrem langen, schmalen, erblich nicht ganz unbelasteten Körper stets ein wenig gefährdet waren. ›Sie hat ja Übertemperatur‹, dachte er, ›und Übertemperatur kann auch psychische Ursachen haben.‹
Im gleichen Augenblick aber ergriff ihn ein so nackter und brutaler Gedanke, daß er ganz kalt wurde, kalte Lippen, Ohren, Hände. ›Totschlagen den Kerl, totschlagen, wenn er versucht –‹, dachte er. In seinem ganzen Leben hatte er noch kein Gefühl von so unentrinnbarer Heftigkeit gespürt wie den Mordwunsch dieser Sekunde – der übrigens ziellos und uferlos ins Leere schlug und verebbte. Persenthein lächelte hinterher erschöpft und wischte sich feinen, kühlen Schweiß vom Nasenrücken. »Ich bin ja irrsinnig«, sagte er halblaut zu sich selber. Das Haus fuhr fort, mit stummen Drohungen geheimnisvoll um ihn zu schweigen.
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