Zwischenfall in Lohwinckel
natürlich Wurststulle, wenn sie mir so vernachlässigt, und schafft mir extra Wurststulle essen. Was brauch ich das dem Herrn Doktor lang erzählen, das merkt der Herr Doktor morgen ja doch, morgen ist wieder Blutprobe, und der Herr Doktor macht ja Wunderkuren, das muß wahr sein, das gebe ich selber zu –«
»Haben Sie Wurststulle gegessen?« fragte Persenthein heftig und spürte, daß er blaß vor Wut wurde; er bekam immer so kalte Ohrmuscheln im Jähzorn –
»Wenn der Herr Doktor sonst bloß keine Sorgen haben«, antwortete Lungaus, und das klang halb wie nackter ‚Hohn und halb wie Mitleid. Der Doktor rückte auf ihn zu und packte ihn an den Schultern. »Sagen Sie mal: Besoffen sind Sie wohl auch wieder?« fragte er drohend und spürte zugleich verwundert, daß Lungaus' harte, magere Schulterknochen nervös zitterten.
»O nein«, erwiderte Lungaus ruhig.
Die Bodenkammer lag noch immer ohne Licht, nur angefüllt von dem wolkigen Mondschein draußen, in dem, entfernter als sonst, die Umrisse des Fabrikschornsteins und der Gebäude von Profets Fabrik sich abzeichneten. Lungaus hatte während des ganzen Gespräches das Fenster in der geschrägten Giebelwand nicht aus den Augen gelassen. Jetzt plötzlich drehte er den Kopf zu Doktor Persenthein.
»Immer laufen lassen«, sagte er geheimnisvoll. »Wenn sie mal so weit sind, dann hält sie keiner mehr. Immerzu laufen lassen, Herr Doktor. Wenn ich der Herr Doktor wäre, da täte ich ihr einen Tritt geben, und raus damit. Ist nicht schön für einen Mann, und daneben sitzen und warten, bis sie mit dem andern loszieht. Ich war auch mal verheiratet. Glauben Sie bloß nicht, daß Ihnen leichter wird, wenn Sie dem Kerl die Knochen auseinanderschlagen. Rausschmeißen und fertig. Das sage ich.«
»Wovon reden Sie denn?« fragte der Doktor, ein wenig beeindruckt durch Lungaus' Gehaben, durch das Zittern in dem mageren Proletarierkörper, durch einen dumpfen Ausdruck von Einverständnis und Verbundenheit, der ihm neu war.
»Von unsrer Mutter natürlich«, erwiderte Lungaus und schaute ihn starr an. »Daß unsre Mutter uns mit dem Kerl betrügt.«
Der Doktor ließ den Arbeiter schnell los, wie versengt; Lungaus lächelte dazu das weltweise Lächeln des alten Tippelbruders. »Der, den's angeht, wundert sich immer am meisten«, bemerkte er.
»Sie sind ja irrsinnig«, sagte der Doktor, schon an der Tür. »Wenn ich draufkomme, daß Sie heute wieder gesoffen haben, fliegen Sie raus.«
»Heute habe ich nicht gesoffen, heute«, sagte Lungaus.
»Laufen Sie also mal rüber zu Herrn Direktor Burhenne und bringen Sie Rehle heim«, sagte der Doktor noch, ihm fehlte das Kind auf eine durchdringende Weise. »Kann ich leider nicht«, gab Lungaus an und trat ans Fenster.
»Was heißt das?«
»Wegen Leumund, Herr Doktor. Wenn einer keinen Leumund hat, dann muß er achtgeben. Wer weiß, was da heute noch alles losgeht in der Stadt und in Obanger, da ist allerhand rum, da ist allerhand angesagt und so, da weiß keiner, was heute noch passiert, und nachher ist es der gewesen, der keinen Leumund hat. Wenn Lungaus auf der Straße gesehen wird, dann kann ja jeder kommen und sagen, Lungaus sei es gewesen, aber wenn Lungaus den ganzen Abend in seiner Kammer gesessen hat, da kann ihm keiner seinen Leumund nachsagen.«
Der Doktor hörte sich diese närrische Erklärung nicht bis zum Ende an, er knallte die Tür zu und kehrte in das Wohnzimmer zurück. Sonderbarerweise fühlte er eine Art Schwindel oder Benommenheit, als er aus der dunklen Kammer herauskam, ein seltsames Gefühl, als wären die letzten Minuten außerhalb der Zeit abgelaufen. ›Dieser Idiot kann einen vollständig dumm reden‹, dachte er. Der Hunger war ihm so völlig vergangen, daß er das Tablett auf dem Tisch mit deutlicher Antipathie erblickte, es aufnahm und wieder in die Speisekammer hinausbalancierte. Auf seiner exakten Taschenuhr war es indessen fast acht geworden, während es vom Kirchturm eben dreiviertel schlug, denn die Kirchenuhr blieb täglich etwas zurück und wurde nur Sonnabend aufgezogen, und die Lohwinckler waren es gewöhnt, diese kleine Ungenauigkeit in ihr Leben einzukalkulieren. Gleich danach klingelte es unten: kurz – lang – kurz, was Rehles Signal war, und der Doktor lief erleichtert an die Haustür. Wirklich stand das Rehle draußen, klein, aber langgestreckt und in ihrem Besuchskleid.
»Da bin ich, Kola«, meldete sie, so strahlend zufrieden mit sich, daß der Doktor es im Augenblick
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