Zwischenfall in Lohwinckel
mit einem Wort, niemandes Idee oder die Idee von allen. Eine von jenen Ideen, die in der Luft liegen und aufgegriffen werden, da und da und überall.
Es wurde Mitternacht, und so langsam die Turmuhr auch ging, es wurde ein Uhr, zwei Uhr, und Elisabeth war noch immer nicht heimgekehrt. Allerdings war dies Doktor Persentheins Bewußtsein auf bodenlose Weise entfallen, aber in der Tiefe saß es doch wie eine dunkle Gefahr und Warnung. Er saß so abgrundeinsam in dem stummen Angermannshaus, die ganze Nacht durch, die Dielen knackten manchmal, und der Mörtel rieselte im Fachwerk.
Er hatte den dünnen Triumph, daß seine Wege richtig waren und seine Idee stichhaltig, und dann war da vielleicht noch das schwache, entfernte Wärmegefühl, daß er mit andern Männern am gleichen Strang zog. Wenig für einen Mann, der insgeheim so von Ehrgeiz ausgehöhlt war wie dieser kleine Landarzt in seinem Winkel. Arm wie Hiob saß er da, vor der vergeblichen Arbeit vieler Jahre, mit seinem Lungaus, mit diesem einen, einzigen Fall, den er unter tausend Lebensopfern studiert und aufgezeichnet hatte. Doktor Wolland in Essen an der Ruhr hatte hundertsiebenundsechzig Fälle und nannte das ›eine kleine, wenig beweiskräftige Anzahl‹.
Doktor Persenthein hatte im Krieg einen Mann gekannt, dem fünf Söhne gefallen waren, einer nach dem andern. In dieser Nacht kam es ihm vor, als wenn es eine einfache und überwindbare Angelegenheit sei, Kinder zu begraben. Er saß da, die ganze Nacht, zwischen seinem ›Biologischen Prinzip der Umstimmung und seine Beeinflussung durch diätetische Maßnahmen‹ und der ›Experimentellen Konstitutionsänderung, hervorgerufen durch veränderte Ernährung und Lebensweise‹ von Doktor Wolland, Essen. Und er hatte eine so vollkommene Leere vor sich wie ein Blinder.
Er ist ein Querkopf, ein Sonderling, ein krauses Gewächs, dieser Doktor Persenthein; ein Mann des Gedankens, ein deutscher Mensch durch und durch – und zudem ein Mensch, der einsam und in aller Stille seinen Lebensinhalt einsargen muß …
An tausenden Tagen hatte das Fräulein von Raitzold die immer gleiche Bewegung gesehen, mit der ihr Bruder den alten Armeerevolver einsteckte, bevor er das Haus verließ. Aber an diesem Abend war es so, als ob diese gewohnte Bewegung erst ihr Auge erreichte, als er schon längere Zeit das Haus verlassen hatte. Und so, im Geist sie nochmals vor sich sehend, schien ihr plötzlich etwas Außergewöhnliches darin gelegen zu sein, eine Gefahr, eine Drohung, eine Finsternis. Aber daß sie etwas Alltägliches so empfand, hatte keinen andern Grund als eben die allgemeine Erregung, die Auflockerung und Übersteigerung, die in ganz Lohwinckel platzgegriffen hatte, immer wachsend, seit der Unfall auf der Düßwalder Chaussee geschehen und die Großstädter in den geschlossenen Kreis der Kleinstadt eingebrochen waren.
Das Gut lag außerordentlich still im Abend, denn ein großer Teil des Personals war nach dem Kino abgewandert, und nur der alte Kilker, der sich eine Stellung zwischen Vorknecht und Verwalter erarbeitet hatte, hockte mit der noch älteren Magd Genofefa im Stall bei der Kuh, die zum erstenmal gebären sollte. Oben, im sogenannten Salon spielte die Lania noch immer ihren Foxtrott, immer wieder von vorne, dreißigmal, vierzigmal, es war eine vollkommen irrsinnige und herzabschnürende Unternehmung. Das Fräulein tapste die Treppen hinauf, klopfte auch und öffnete vorsichtig die Tür zu dem dreifenstrigen Raum mit den hartgelben, schleißigen Damasttapeten und dem gazeumwickelten Glaslüster, aber die Schauspielerin bemerkte sie nicht. Sie saß mit gerecktem Kinn und völlig geistesabwesendem Ausdruck vor dem alten Nußbaumflügel und schaute unverhältnismäßig klein und schutzlos aus. Die Leere, inmitten der sie sich zu befinden schien, war so undurchdringbar, daß Fräulein von Raitzold stumm die Tür wieder schloß, draußen ihre Stiefel wieder antat, die sie abgestreift hatte, und sich zurückzog.
Kurz nach halb neun – der Tierarzt war eben eingelaufen und hatte sich mit Fräulein von Raitzold zu der kreißenden Kuh begeben – wurde antelefoniert. Eine hastige Stimme meldete den Brand in der Fabrik und forderte die Pferde, denn das Gut war verpflichtet, Vorspann für die alte Spritze zu stellen, die zur Unterstützung der neuen Motorspritze gebraucht wurde. Das Fräulein erschrak unmäßig, ihr schien ein dunkler Zusammenhang zwischen dem flackernden Wesen ihres Bruders und diesem Brand zu
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