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Zwischenfall in Lohwinckel

Titel: Zwischenfall in Lohwinckel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baum Vicki
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Erleuchtung. Er besann sich des närrischen, aufgestörten Wesens und daß Lungaus' Schultern vorhin so wunderlich gezittert hatten, als er am Kammerfenster stand und hinaussah. ›Aber der Kerl hat ja das Feuer gelegt!‹ dachte er. »Man wird ihn einsperren. Man wird ihn mir fortnehmen und wird ihm Zuchthauskost zu fressen geben. Dann kannst du einpacken, Kola. Dann kannst du einpacken!« erzählte er sich ganz laut, sprang auf und rannte rund um den Operationsstuhl. Da hatte er nun etwas zu kauen, das ihn gründlich von der Sorge um seine Frau ablenkte. Wenn Lungaus das Feuer gelegt hatte – und sogar wenn er es nicht gelegt hatte –, wenn man ihn bloß verdächtigte, wenn man ihn bloß in Untersuchung nahm für vier bis sechs Wochen …
    Persenthein blieb vor dieser Befürchtung stehen, mitten im Zimmer, wie vor einer dicken Mauer. Unten vor den Fenstern dauerte das nächtliche Reden und Gehen und Schurren von Schritten und das steinerne Widerhallen von Worten an. Jetzt kamen schon welche vom Brand zurück in die Stadt. ›Elisabeth‹, dachte der Doktor bei jedem Schritt, der sich der Haustür näherte, aber Elisabeth kam noch nicht. Er ging ans Fenster, riß es heftig zu, so daß der alte Aristoteles, der immer in der Fensternische lag, zu Boden fiel und seine vergilbten Seiten mit dem winzigen Druck aufschlug. ›Harmonie – schöne Harmonie‹, dachte Persenthein und hatte Lust, mit dem Fuß dem Buch ins Gesicht zu treten. Er ging nochmals an das Fenster und schlug die Holzläden draußen zu. Es war eine Absage an die aufgestörte Welt. ›Bleib draußen!‹ hieß es.
    Zurückkehrend zu seinen Notizen, konnte der Doktor trotzdem keine Sammlung finden, so erbittert er sich darum bemühte. ›Schlafen?‹ schlug er sich vor, lehnte aber mit Kopfschütteln ab. Verwundert bemerkte er, daß an Schlafen nicht zu denken war, bevor Elisabeth nicht heimkehrte und alle Unklarheit in ihrer Klarheit zur Ruhe brächte. Zuletzt und nach vielen Touren rund um den Operationsstuhl und vielen Beschwichtigungszigaretten landete er vor dem Häufchen Post, das Rehle spät noch hereingebracht hatte. Die langsame Kirchenuhr war bei der elften Stunde angelangt, als der Doktor die letzte Nummer der Münchener medizinischen Wochenschrift aufblätterte und im Inhaltsverzeichnis an einem Titel hängenblieb.
    ›Experimentelle Konstitutionsänderung, hervorgerufen durch veränderte Ernährung und Lebensweise‹, hieß der Artikel, den Doktor Persenthein mit einem leichten, stoßenden Stocken seines Herzschlags aufsuchte, nicht gleich fand und den er dann zu lesen begann, wobei seine schweren Schulterknochen nach vorn sanken und seine empfindlichen Lidränder sich röteten.
    Der Bericht hatte wie fast alle derartigen Berichte den Vortrag irgendeines Arztes in irgendeiner Medizinischen Gesellschaft zum Thema – Persenthein blätterte zweimal zurück, um sich den Namen einzuprägen. Wolland hieß der Mann, Oberarzt an der städtischen Klinik in Essen an der Ruhr, wo er ja allerhand Menschenmaterial an der Hand gehabt haben mochte – und er behauptete nichts anderes und nichts Geringeres, als daß es ihm gelungen sei, durch eine besondere Lebensweise, strengst durchgeführte Diät und etappenweise gesteigerte Gewöhnung der bedrohten Organismen an Gefahren eine grundlegende Umstimmung der Disposition hervorrufen zu können. Er behauptete und bewies dies nicht nur auf ziemlich einleuchtende Weise; er machte nicht einmal viel Aufhebens davon, sondern gab an, daß seine Arbeiten fußten und sich anschlossen an die bekannten Arbeiten von Krokius in Oslo und Professor Williams vom Bros Mayo-Institut, Boston. Zuletzt bezog er sich sogar auf eine ganze, von der Freiburger Universität ausgehende Schule, die in Theorie und Praxis seit Jahren die gleichen Wege ging, und nannte seine Erfahrungen an hundertsiebenundsechzig Patienten bescheiden, wenn auch verheißungsvoll für den Beginn.
    Es konnte keine geräuschlosere Katastrophe geben als die, welche Doktor Persenthein erlitt, während er diesen Bericht las, noch einmal und ein drittes Mal las, zurückblätterte, nachsuchte und die in großen Zügen angegebene Methode und Therapie mit seinen eigenen Notizen verglich. Im Detail mochte dieser Wolland in Essen an der Ruhr manches anders angepackt haben, aber die Idee war die gleiche. Es war Persentheins Idee und Wollands Idee, und die Idee der Doktoren Krokius in Oslo und Williams in Amerika und die Idee der Freiburger Schule auch. Es war,

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