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Zwischenspiel: Roman (German Edition)

Zwischenspiel: Roman (German Edition)

Titel: Zwischenspiel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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Bist du damals einfach gegangen? Das eine wäre so schwer gewesen wie das andere. Du konntest nicht bleiben, und ich konnte nicht gehen. Er ist ja auch nicht gegangen. Und jetzt liege ich für immer neben ihm, ich allein, sagte Olga.
    Und ich sagte, vielleicht komme es ja nur darauf an, dass man das schafft.
    Eine Weile liefen wir schweigend hintereinander her. Weiche Zweige streiften mein Gesicht und verfingen sich in den Haaren. Auf einer kleinen Brücke blieben wir stehen, lehnten uns über das Geländer und starrten in das trübe Flüsschen unter uns.
    Für die einen kommt es darauf an, sagte Olga, und für andere nicht. Mir ist nichts anderes eingefallen. Ich war Hermanns Frau und die Mutter meiner Kinder.
    Aber wenn du Schauspielerin geworden wärst?, fragte ich.
    Olga streckte sich, lachte. Hast du nicht gesagt, ich sei zu schamhaft gewesen? Ich war keine Schauspielerin.
    Vor allem, sagte Olga, hätte schon der Gedanke, abends, nachts und morgens immer allein zu sein, in ihr nur finstere Ratlosigkeit hinterlassen. Alleinsein sei ihr vorgekommen wie der Abschied vom Leben.
    Nach Hermanns Tod war Olga dann trotzdem allein. Monatelang war sie wie betäubt. Wenn ich sie besuchte, kochte sie Kaffee wie immer, saß aufrecht, aber kraftlos, mit einem Lächeln, das wie ein heimliches Weinen wirkte, auf ihrem angestammten Platz, Hermanns Sessel gegenüber, als warte sie auf seine abendliche Heimkehr. Nach einem halben Jahr nahm sie eine Aushilfsstelle in einer Buchhandlung in ihrer Nachbarschaft an. Sie freundete sich mit der Buchhändlerin an. Und als die junge Frau, für die sie eingesprungen war, sich nach der Geburt ihres Kindes doch lieber um dessen Aufzucht kümmern wollte, bekam Olga eine feste Anstellung und ging nun dreimal wöchentlich für vier Stunden in den Buchladen. Mit ihrer neuen Freundin, der Buchhändlerin, fuhr sie nach Griechenland und Spanien, in Berlin gingen sie gemeinsam ins Kino oder ins Theater. Ich nahm an, dass es auch die Buchhändlerin war, die Olga mit den Bahai bekannt gemacht hatte. Jedenfalls hatte Olga mich eines Tages gefragt, ob ich wisse, dass sie eine Bahai sei.
    Ich dachte, du bist Protestantin, sagte ich.
    Nein, ich bin eine Bahai, sagte Olga.
    Ich hatte zwar immer vermutet, dass Olgas moralische Gewissheiten einem religiösen Kodex folgten, ohne mir darüber aber weitere Gedanken zu machen. Es war mir peinlich, dass ich über die Bahai nicht mehr wusste, als dass sie eine religiöse Gemeinschaft waren und dass es irgendwo in Deutschland einen Bahai-Tempel gab. Sonst hätte ich Olga vielleicht gefragt, warum und wie sie zu einer Bahai geworden war. Aber vielleicht hätte ich auch nicht gefragt, wenn ich damals schon gewusst hätte, dass die Bahai die friedlichsten aller Gläubigen waren, deren Andachten alle Religionen einschlossen, und dass der Bahai-Glaube weltweit wenigstens fünf Millionen Anhänger hatte, wovon allerdings nur ein paar tausend in Deutschland lebten. Gespräche über Religion, sofern ich sie mit gläubigen Menschen führen musste, endeten für mich immer in einem hilflosen Unbehagen. Ich sah im Glauben an den einen sorgenden Gott vor allem die Unfähigkeit, das unfassbare Geheimnis zu ertragen, dessen winziger Bestandteil wir waren, unser Dasein und Wegsein, den herabstürzenden Ast, von dem Ödön von Horváth auf den Champs-Elysées erschlagen wurde. Die Menschen kannten Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Welche Zeiten kannte die Eintagsfliege, morgens, mittags, abends, nachts? Manchmal stellte ich mir vor, Wind sei der Atem eines unerkennbar großen Wesens, das die Zeit von einer Eiszeit zur nächsten maß und in dessen Augen die Menschen wie Eintagsfliegen waren. Nur käme ich nie auf die Idee, zu diesem Wesen um Beistand zu beten. Schließlich tat ich auch nichts für die Eintagsfliege, im Gegenteil, ich schlug sie tot. Sobald ich einem Gläubigen diese meine gottlose Existenz schilderte, flammte in dessen Augen, je nach Wesensart, Mitleid oder Hochmut auf. Der Blick der Hochmütigen erinnerte mich immer an meine Mutter, den Sekretär, die dicke Doro und an dieses infame Lächeln von Rosi, das Lächeln der Wissenden, die, wie sich herausstellte, gar nichts wussten, nicht einmal als die Spatzen es längst von den Dächern pfiffen, dass das Land, in dem sie die Zukunft der Menschheit aufgehoben glaubten, längst bankrott war und menschenleer gewesen wäre, hätte man das Volk nicht darin eingemauert. Am wenigsten verstand ich, wie ein Mensch, der sich

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