Zwischenwelten (German Edition)
Touristenattraktion, heißt es. Ich hab’s ja selbst auch nicht mehr erlebt, aber trotzdem. Hier, das Bild über der Theke, das ist ein Erbstück, das hat hier schon immer gehangen. Sehr ihr den Kai mit all den Booten, die schöne Terrasse und die vielen Menschen? So hat es hier mal ausgesehen. Könnt ihr euch das vorstellen?«
»Ja«, murmelt Ayse so leise, dass sie der Mann an der Theke nicht verstehen kann, nur Tio dicht neben ihr. »Sehr gut sogar.«
»Na schön. Ihr beide wollt einen Becher Wasser.« Lasje nimmt einen Steingutkrug von der Theke. »Bin gleich zurück.«
Tio wirkt durcheinander. »Haben die Runji den Fluss trockengelegt?«
Kurz darauf stellt Lasje den Krug voll mit eiskaltem Wasser und zwei Becher vor sie auf den Tisch. »Ich bewahre es gekühlt auf«, sagt er nicht ohne Stolz. »Jaja, manche Menschen machen sich die Mühe gar nicht mehr. Aber ich hole jeden Tag eine bestimmte Menge aus der Tonne und stelle es kalt. Zum Glück hab ich gestern etwas mehr als sonst gekühlt, ich wusste ja nicht, wie viel die Leute trinken würden. Die Forscher.«
»Welche Forscher?«
»Na, die wohnen hier. Die bleiben mehrere Wochen, wenn es gut geht. Da hab ich mal wieder Glück gehabt. Für ein paar Wochen Kundschaft, und dann sind sie auch noch zu dritt. Übernachtung, Frühstück und Abendessen. Sie graben nach irgendwas im trocknen Sand beim Hafen. Keine Ahnung, was sie dort treiben, aber es wird schon in Ordnung sein. Und ich hab wenigstens wieder Gäste.«
Ayse und Tio trinken in kleinen Schlucken von ihrem kalten Wasser. Auch wenn es bei ihnen zu Haus einfach so aus dem Wasserhahn kommt, begreifen sie doch, dass es hier in Sandbuche etwas Besonderes ist, mit dem sie sparsam umgehen müssen. Auch müssen sie zu ihrer Überraschung kräftig dafür zahlen. Das merken sie, als sie aufbrechen wollen. Zum Glück haben sie, als sie das letzte Mal in Sandbach waren, genügend Khansi mitgenommen.
Sie gehen sofort zum Kai, um zu sehen, ob sie die Forscher, von denen Lasje gesprochen hat, irgendwo entdecken. Aber als sie dort ankommen, springt ihnen etwas anderes ins Auge.
»Das Wasser!«, ruft Tio. »So niedrig!«
Das Wasser des Binnenmeers, das früher angenehm gegen die Kaimauer klatschte, hat sich so weit zurückgezogen, dass ein Sandstrand freigelegt worden ist. Hier und da sieht man noch Teile hölzerner Wracks, und ein einzelner alter Kahn liegt zur Seite gesackt im Sand. An den Resten blauer Farbe ist zu erkennen, dass es der von Valpa sein muss. Kleine orange Krabben wuseln zwischen grünschwarzen Algenhäufchen hin und her.
Ayse kneift sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu. »Riecht ein bisschen …«
Tio nickt. »Nach faulen Fischen. Ich glaube, dass das die Algen sind, die da in der Sonne trocknen.« Dann stellt er fest: »Man gewöhnt sich dran.«
Vorsichtig nimmt Ayse die Finger von der Nase. »Hmm.«
In einiger Entfernung sehen sie ein paar Menschen. Sie scheinen auf dem trockenen Sand intensiv mit etwas beschäftigt zu sein, doch Ayse und Tio können nicht erkennen womit.
»Was die wohl suchen?«, fragt Ayse.
»Erforschen«, verbessert Tio. »Das hat Lasje gesagt, sie sind Forscher. Vielleicht graben sie nach Wracks.«
»Ja!« Ayse lacht. »Nach Piratenschätzen!«
»Oder nach Versteinerungen. Oder nach Edelsteinen. Oder nach … Öl!«
»Ach, das ist traurig.« Ayse wendet sich ab. »Gehst du mit nach Terrasse? Ich will wissen, wie es da aussieht. Das finde ich viel spannender als so ein paar grabende Leute.«
»Terrasa«, verbessert Tio sie zum zweiten Mal. »Du musst besser zuhören, Ayse, wenn dir jemand was erzählt.« Er grinst. »Nehmen wir den Weg?«
»Nein, lass uns am Fluss entlanggehen. Da können wir sehen, was von dem noch übrig ist.«
Was von dem noch übrig ist, kann man nicht mehr Fluss nennen. Sein nahezu völlig ausgetrocknetes Bett erstreckt sich vor ihnen wie ein langer leerer Graben zwischen Sandbuche und Terrasa. In der Mitte, an den tiefsten Stellen, stehen noch ein paar braune Tümpel mit modrigem Wasser. Dort, wo der Boden trocken ist, sieht er aus wie gebrannter Ton, voller Risse und Spalten. Das einzige Grün auf beiden Seiten des Flussbetts sind dieselben harten Grasbüschel und Dornensträucher, die sie schon auf dem Weg nach Sandbuche gesehen haben. Wahrscheinlich sind das die einzigen Pflanzen, die in dieser Sandwüste überleben.
»Schöner Mist«, wettert Tio. »Die haben echt alles Wasser geklaut. Was habe sie damit gemacht? Vielleicht
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