Zwischenwelten (German Edition)
gerade wieder gehen«, nuschelt Tio und zieht Ayse am Ärmel.
»Ah ja.« Ayse lächelt freundlich. »Auf Wiedersehen, Sss…« Gerade noch rechtzeitig verschluckt sie den Namen des Mädchens. Fast hätte sie denselben Fehler gemacht wie beim letzten Mal. Diesem misstrauisch dreinblickenden Thorpa will sie wirklich lieber nichts erklären müssen. Sie dreht sich um und läuft Tio schnell hinterher.
Schweigend gehen sie den Weg nach Sandbach. Bald kommen sie zu einem metallenen Schild, das leise quietschend an seinen Scharnieren baumelt, und lesen, was darauf steht.
»Sandbuche?« Ayse zieht die Augenbrauen hoch. »Der Name ist schon wieder verändert worden.« Missbilligend schaut sie sich um. »Viele Buchen dürfte es hier aber kaum geben! Eine Buche ist ein Baum. Siehst du hier irgendwo einen Baum?«
Tio zeigt auf ein dünnes Stämmchen weiter vorne, an dessen einzigem Zweig fünf trockene Blätter hängen. Er verzieht das Gesicht. »Den meinen sie bestimmt nicht. Nach so einer Bohnenstange benennt man keine Stadt.«
Als sie in – wie es diesmal heißt – Sandbuche ankommen, stößt Ayse einen erleichterten Seufzer aus. »Den Ort gibt es immer noch. Ich glaube, es hat sich nicht viel verändert.«
»Erst mal näher ansehen.« Tio ist erleichtert, aber er traut der Sache nicht.
Die Straßen sind noch genau so, wie sie waren. Es ist nichts dazugebaut worden, höchstens ist hier und da etwas verschwunden oder eingestürzt.
»Hier wohnen nur wenige Menschen«, vermutet Tio. »Massenhaft vernagelte Fenster und Türen. Sandbuche ist wohl dabei, zur Geisterstadt zu werden.«
Ayse rümpft die Nase.
»So heißt das«, erklärt Tio, »wenn in einem Dorf oder in einer Stadt fast niemand mehr wohnt.«
»Wo sollen die denn alle hin sein?«
»Irgendwohin, wo es besser ist. Du hast doch gehört, wie Sirje gesagt hat, dass ihr Vater keine Arbeit hat. In dieser Gegend sind sie noch ärmer geworden, als sie schon beim letzten Mal waren.«
Ayse nickt. »Damals ist der Fischfang weggefallen, und jetzt sogar das Wasser! Hast du diese komische Geschichte verstanden, dass sie nur das Wasser haben dürfen, das vom Himmel fällt?«
Tio zuckt mit den Schultern.
Sie gehen in Richtung Hafen, bis Ayse in eine Nebenstraße zeigt und beschließt: »Ich will erst bei der alten Herberge vorbeigehen, ich will wissen, ob der nette Lasje es überlebt hat.«
Die Herberge steht noch. Die Mauern sind ein bisschen abgesackt, und an manchen Stellen schauen die grauen Backsteine unter dem bröckelnden Putz hervor. Am Holz blättert die Farbe ab, und in einem Fenster sind ein Sprung und ein ordentliches Loch – als ob jemand einen Stein reingeschmissen hätte –, das mit einem Stück Pappe abgedichtet ist. Auf der Terrasse stehen keine Tische und Stühle mehr, sie ist leer und verlassen. Aber die Tür ist offen.
»Gucken wir mal rein?«, flüstert Ayse.
In der leeren Gaststube lehnt der gutmütige Lasje vorgebeugt über der Theke, die Ellbogen aufgestützt, das Kinn in den Händen. Er starrt gelangweilt vor sich hin. Als die beiden eintreten, schaut er verwundert auf.
»Haben Sie geöffnet?«, fragt Ayse wieder einmal.
Lasje lacht freudlos. »Tja, was soll ich sagen? Geöffnet, geschlossen, was macht das heutzutage schon aus.«
»Ich meine, können wir hier was trinken?«, sagt Ayse, geht zu einem Tisch, zieht einen Stuhl zu sich heran und setzt sich.
»Wasser?«, fragt Lasje begeistert. »Es ist noch ziemlich frisch, erst vorgestern geholt.«
»Geholt?« Tio blickt ihn verständnislos an. »Wo holen Sie es denn, das Wasser?«
»In Terrasa natürlich. Wo sonst?«
»Haben Sie hier keine Wasserleitung?«
Jetzt ist es Lasje, der dumm guckt. »Wenn du die Brunnen meinst, die sind fast alle trocken. Schon seit Jahren. Ihr seid sicher nicht von hier? Kommt ihr etwa aus Belmonde?«
»Nein …« Tio zögert. »… von noch ein Stück weiter weg.«
»In Belmonde haben sie noch Wasser«, sagt Lasje, »die haben Glück gehabt. Sie sind dichter an der Asura.«
»An der was?«
»Die Asura, der Fluss, den sie da haben. Unser Risande ist so gut wie verschwunden, genau wie die Flussarme und Zuflüsse.« Jetzt wird er einigermaßen munter. »Selbst das Grundwasser ist so gesunken, dass die meisten Brunnen ausgetrocknet sind. Also wirklich, ich bin ja kein Schläger, aber den Runji, denen würde ich doch gern einen Tritt in den Hintern geben. Würdet ihr glauben, dass es hier einmal sehr schön war? Sandbuche war eine
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