Zwischenwelten (German Edition)
mitten in dem braunen Wasser.
Das Haus und die Scheunen von Sirpa und Thorpa lagen hinter einem kleinen Hügel, und wenn er jetzt gleich um die letzte Kurve biegt, kann er sie vor sich sehen. Tio wird immer schneller.
Was er zu sehen kriegt, lässt ihn erblassen.
Ruinen. Nur noch Überreste von Gebäuden. Zerbröckelnde Mauern, eingestürzte Dächer.
Fröstelnd und zögernd geht Tio näher heran. Es ist schrecklich! Hier wohnt niemand mehr. Sie werden Sirpa und Thorpa bestimmt niemals wiedersehen. Wenn sie nur mit ihren Kindern rechtzeitig weggekommen sind!
Er erkennt die Fundamente, weiß noch, wo die Scheune gestanden hat, wo der Eingang zum Wohnhaus war. Niedergeschlagen bleibt er noch eine Weile stehen und schaut sich um.
Ein Windstoß kräuselt das Wasser rund um die Trümmerhaufen. Kleine Wellen klatschen leise gegen die Mauerreste. Ein Brett treibt vorbei. Auf dem Holz stehen Buchstaben. Tio legt den Kopf schräg und versucht zu lesen, was darauf steht. »Irgendwas mit Käse«, murmelt er vor sich hin. Das Brett gehört bestimmt zu einer Kiste, einem Kasten, in dem Thorpa seine Waren verstaut hat, wenn er zum Markt gegangen ist. »Vielleicht stand da ›Thorpas hervorragender Ziegenkäse‹.« Tio verzieht bitter das Gesicht. Wie traurig das ist.
Plötzlich reicht Tio alles. Abrupt dreht er sich um und macht sich auf den Heimweg. Hier will er sich nicht weiter umsehen. Hier will er nicht sein. Und schon gar nicht alleine.
Vielleicht kommt Ayse morgen zu ihm, und sie können sich gemeinsam diesem Elend stellen.
Tio hat sich mit seinem Frühstücksbrettchen nach draußen gesetzt. Die Sonne scheint, und es ist wunderbar friedlich auf dem Platz der Wanderbühne. Fast alle schlafen noch. Es muss ungeheuer vergnügt zugegangen sein mit all dem Bier und Pflaumenschnaps.
Tio nimmt einen großen Bissen von seinem Zwieback mit Käse und kaut daran, dass es nur so kracht. Das macht einen solchen Lärm, dass er ihre Stimme nicht gleich hört.
»He, sitzt du auf deinen Ohren?«, schreit Ayse dicht neben ihm.
Tio verschluckt sich an den Zwiebackkrümeln und springt auf.
Ayse grinst und klopft ihm auf den Rücken. »Trink mal einen Schluck Milch.«
»Oh, Mann«, keucht er, als er sich ausgehustet hat.
»Tut mir leid, dass ich gestern nicht gekommen bin«, fällt Ayse mit der Tür ins Haus. »Ich durfte nicht weg, ich musste mit meiner Mutter zu ihrer Schwester, also meiner Tante. Die hat ein Baby gekriegt, das mussten wir uns ansehen.« Sie klaut sich Tios Stuhl und setzt sich. »Da ist noch gar nichts dran an so einem kleinen Würmchen. Potthässlich, Mann. Ganz gelb und verschrumpelt. Ich hab ihr kleine Pantoffeln gekauft, aber die kann sie in hundert Jahren noch nicht anziehen. Sie hat solche Füßchen.« Ayse deutet es mit Daumen und Zeigefinger an. »Aber vorerst kann sie ja sowieso noch nicht laufen, also macht das nichts.« Sie blickt zu Tio auf, der sie mit hochgezogenen Augenbrauen anstarrt. »Hm, ja, nicht so interessant, was? Tut mir leid.«
Tio bricht in Lachen aus – über Ayses verzücktes Gesicht, über ihr aufgedrehtes Geplapper. Oder einfach, weil sie wieder da ist.
Vorsichtig lächelt Ayse zurück. »Also bist du nicht sauer, dass ich einfach nicht gekommen bin? Gott sei Dank. Und, äh … bist du noch irgendwo gewesen?« Sie zeigt mit dem Daumen über die Schulter in Richtung Zelt.
Tio nickt. Er wischt sich ein paar Krümel vom T-Shirt und sagt erst einmal nichts. Dann streckt er Ayse die Hand hin. »Komm, du musst es selbst sehen. Es ist grauenvoll.« Er geht voraus ins Zelt und zu dem kleinen Raum hinter der Bühne. »Unsere Rucksäcke liegen hier, ich hab sie unter eine Bank geschoben. Mein Vater wollte unbedingt wissen, was da drin ist. Ich hab’s ihm natürlich nicht so richtig erzählt. In meinem sind noch ein paar Rumbariegel, meine Sandbacher Jacke und die silberne Hose. Deiner ist auch noch voll mit Klamotten?«
Ayse nickt. »Meine Jacke ziehe ich an. Den Rest lasse ich drin. Und meine Mütze muss ich natürlich aufsetzen.«
Tio macht die Kiste auf. »Gehen wir gleich?«
»Ja. Ich muss heute Mittag zurück sein, um auf meinen kleinen Bruder aufzupassen. Also beeilen wir uns.«
»Gestern«, erzählt Tio, »war alles überflutet. Und nicht nur so ein bisschen! Es war richtig schlimm. Haus und Scheunen von Sirpa und Thorpa? Alles weg. Nur Ruinen standen da noch. Eine einzige Wasserfläche, egal, wo du hingesehen hast. Es war schrecklich und hat mich total deprimiert.
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