Zwischenwelten (German Edition)
die Träger, zieht mürrisch die Schultern hoch und geht weiter.
»Hör mal, ich hab mir wirklich nichts ausgedacht. Ich hab echt geglaubt, ich hätte was gehört.« Tio rennt hinter ihr her.
»Oh, jetzt plötzlich doch wieder?«
Tio schaut sich noch einmal zum Badehaus um, als würde er erwarten, dort jemanden in der Türöffnung auftauchen zu sehen.
Ayse folgt seinem Blick, und in ihren Augen flackert wieder Angst auf. »Willst du mich zum Narren halten?«
Tio schüttelt den Kopf. »Gehen wir lieber auf Nummer sicher und suchen uns einen Unterschlupf.«
»Hier? Nicht in Sandbach?«
»Was kommt dir sicherer vor: den ganzen Weg bis nach Sandbach im Dunkeln durch den Sumpf zu gehen, während vielleicht jemand hinter uns herkommt, oder schnell ein Runjihaus zu finden, in dem wir unterschlüpfen können?«
Der Ton, in dem er das sagt, lässt wenig Zweifel daran, was er für die bessere Entscheidung hält.
Ayse beißt sich auf die Lippe. »Hab ich dir eigentlich von dem unheimlichen Kerl erzählt, der mich in Sandelenbach verfolgt hat?«
»Was?« Tio sieht überrascht und besorgt aus. »Da ist dir ein Kerl nachgegangen? Was für ein Kerl?«
»Ein Mann, oder auch … ein Junge. Ungefähr sechzehn, denke ich mal. Jedenfalls älter als ich.«
Tio beißt die Zähne aufeinander. »Und was hat der Kerl von dir gewollt?«
»Was weiß ich. Ich bin nicht stehen geblieben, um gemütlich mit ihm zu schwatzen.« Sie hat Tio zwar erzählt, wie sie an dem Morgen aus Sandelenbach fortgerannt war wegen der Schwingen, die im Hafen lagen, doch von dem Jungen, der sich in der alten Herberge nach ihr erkundigt hatte, war keine Rede gewesen. Ayse späht noch einmal zurück zu dem erleuchteten Gang und dem Badehaus. Rückwärts geht sie weiter. »Dann laufen … wir doch, äh … los!«
»Gehen wir über die Brücke und dann zu den kleinen Wohnbooten auf der anderen Seite?«, schlägt Tio vor und trabt auch schon an ihr vorbei, packt sie am Ärmel ihrer Jacke und schleift sie mit.
Ihre Füße trommeln über den hölzernen Brückensteg. Auf der anderen Seite angekommen, zieht Tio Ayse mit sich durch irgendeine der nächstliegenden Türen, die er dann sofort mit einem mächtigen Riegel verschließt. »So!« Keuchend lehnen sie sich an die Wand.
Im Haus ist es dunkel, nur durch ein kleines Fenster fällt dämmriges Licht herein, und das bringt Ayse auf eine Idee. »He, wenn wir wirklich verfolgt werden …« Sie geht ans Fenster und schaut nach draußen. »Dann muss das Scheusal doch bestimmt über dieselbe Brücke auf diese Seite kommen, oder?«
»Siehst du was?«
»Nein, nichts.«
Zusammen blicken sie eine Weile auf die verlassenen Brücken und Stege der stillen Runjistadt.
»Wir sind doch immer allein gewesen, wenn wir am Kai über die Treppe gegangen sind«, murmelt Ayse. »Warum sollten jetzt plötzlich Menschen da sein? Oder ist es vielleicht das Mädchen, das auch das Spiel spielt?«
Tio fährt auf. »Ja, natürlich! Sie kann genau wie wir überall hinkommen.«
»Aber warum schleicht sie sich dann so heimlich an?«
Tio überlegt. »Vielleicht um zu gucken, ob wir es auch richtig machen?«
Ayse lacht erleichtert. »Und da bleiben wir hier und schlottern uns einen ab vor Angst? Wir wollten doch noch in die Läden?«
»Traust du dich wieder?« Tio schiebt den Riegel zurück.
Sie sind erst wenige Schritte von der Tür entfernt, als plötzlich überall in der Runjistadt die Lichter angehen.
Tio erschrickt. »Da kriegst du doch die …«
»… Motten«, ergänzt Ayse, die ihn das schon mal hat sagen hören. Sie schaut sich kurz um, und ihr Gesicht hellt sich auf. »Das Mädchen.« Sie nickt noch einmal bestätigend. »Wetten? Ganz schön gemütlich so mit all den Lampen.«
»Glaub ich ja nicht, dass sie nur mal so für uns die ganze Beleuchtung anschaltet. Vielleicht haben die Runji eine automatische Stadtbeleuchtung.«
Jedenfalls finden sie, dass das Licht sehr freundlich wirkt und es in den stillen Straßen längst nicht mehr so unheimlich aussieht. An allen Häusern und Gebäuden hängen Lampen aus ockergelbem Glas, die ein warmes Licht verbreiten und Ayse an einen Laternenumzug erinnern.
Sie brauchen nicht weit zu laufen, bis Ayse eine Reihe flacher Gebäude mit Ladenschildern über den Türen bemerkt. Eindeutig eine Geschäftsstraße. »Gefunden!« Sie schwenkt den Arm. »Bitte sehr, das Geschäftszentrum.«
»Was willst du eigentlich kaufen?«, fragt Tio, während er bereits auf den ersten Laden
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