Zwischenwelten (German Edition)
ich entkommen bin.«
»Wenn du willst, können wir hingehen und gucken«, schlägt Ayse vor. »Das Stück sind wir schnell gelaufen.«
»Ich glaub nicht, dass es da viel zu sehen gibt.« Tio zuckt mit den Schultern. »Vielleicht ist er inzwischen genauso verfallen wie der Hafen der Salzländer. Wenn alles wieder und wieder in Brand gesteckt wurde, dann haben die Runji das Ganze vielleicht genauso verkommen lassen wie die Salzländer ihr Sandbach.«
Doch Ayse kann sich das nur schwer vorstellen. Diese Runjistadt ist so prachtvoll, und die Runji scheinen ihr kein Volk zu sein, dem es einfallen würde, etwas verwahrlosen zu lassen.
Inzwischen haben sie die andere Seite des Flusses erreicht.
»Hier schwimmt nicht mehr alles auf dem Wasser.« Ayse ist die Erste, die den veränderten Baustil der Runji bemerkt.
»Vielleicht sind die großen Gebäude zu schwer?«
»Wozu sind die denn wohl gebaut worden?« Ayse geht von der Brücke runter. »Ich schau mir das mal an.«
Es sieht aus, als wollten die Runji inzwischen aus irgendeinem Grund ab und zu festen Boden unter den Füßen haben. Ein mit Steinen oder Gehwegplatten befestigter Weg scheint allerdings für das Flussvolk immer noch undenkbar zu sein, denn alle Wege sehen wie Stege aus: Lattenroste aus Holz schlängeln sich zwischen den Gebäuden durch, als ob es egal wäre, dass sich kein Wasser oder Morast unter dem Holz befindet.
»Sie könnten doch auch ganz normale Wege wie bei den Salzländern haben, mit Sand, Kies oder Steinen«, wundert sich Ayse. »Wer baut denn noch Gehwege aus Holz?«
»Hier ist es morastig.« Tio zeigt auf die Tümpel und Schlammpfützen unter den Stegen. »Vielleicht hat es etwas damit zu tun. Ich verstehe nichts davon, aber ich kann mir vorstellen, dass sich im Morast keine Steinplatten verlegen lassen.«
»Und was ist dann mit den großen Häusern?«
»Die stehen auf Pfählen im Wasser.« Das hat Tio gesehen.
Ayse entscheidet sich für einen Holzweg, der auf etwas zuführt, das ihr wie ein Eingang vorkommt, eine große Tür in einer hölzernen Mauer. Die Tür hat einen Rundbogen, der mit den ihnen inzwischen vertrauten Runjischnitzereien verziert ist. »Ich finde es immer noch wunderschön, was sie machen«, sagt sie bewundernd.
Zögernd betreten sie das Gebäude und müssen sofort eine Entscheidung treffen. Der Bau ist rund und so angelegt, dass es aussieht, als würde mittendrin ein zweites, ebenfalls rundes, doch kleineres Gebäude stehen, um das ein runder Gang führt, und jeder, der eintritt, muss sich entscheiden, ob er nach links oder nach rechts will. Der Gang ist dunkel.
»Willst du hier wirklich rein?«, fragt Tio zögernd.
Ayse dreht sich zu ihm um. »Die Runji hatten doch auch so was wie Elektrizität, oder?«
»Was?« Dann begreift Tio, was sie meint, und nickt. Er lässt seine Hand tastend über die hölzerne Wand gleiten.
»He, gefunden«, kommt ihm Ayse zuvor, und er hört ein leises Klicken, als sie den Schalter drückt. Gleich darauf ist der Gang von weichem orangefarbenen Licht durchflutet. Kleine halbrunde Körbe, in denen ein Licht brennt, sind in regelmäßigen Abständen in die Wand eingelassen. Es scheint, als ob sie ein wenig Zeit bräuchten, um ihre volle Kraft zu entfalten, denn langsam wird das orange Licht zu Gelb und dann zu Hellgold.
Ayse betrachtet den dämmrigen Gang und blickt dann fragend zu Tio. »Nach links oder nach rechts?«
»Ene-mene-muh«, sagt Tio mit einem Achselzucken und deutet nach rechts.
Ayse sieht Tio ein paar Sekunden nach, bevor sie hinter ihm herrennt. »Du tust so, als hättest du keine Lust mehr!«
»Doch, schon. Aber ich hab das Gefühl, dass ich dauernd neue Entscheidungen treffen muss. Und das bin ich ein bisschen leid.«
»Dann geh doch einfach hinter mir her.«
»Das tu ich doch schon die ganze Zeit.« Tio grinst. »Du findest es immer noch richtig spannend, was?«
»Stimmt.« Ayse gibt sich begeistert und klopft gegen die Schnitzereien an der Wand. »Hast du die vielen Verzierungen gesehen? Wie kleine Bilder.« Zwischen den Lampen an den Wänden befinden sich dreieckige Schnitzereien, den ganzen Gang hinunter, und jedes dieser Kunstwerke zeigt etwas anderes. »Das sieht aus wie ein Comicstrip.« Sie nimmt sich die Zeit, sie alle nacheinander zu betrachten.
»Schön?«, fragt Tio und beugt sich über ihre Schulter, um mitzugucken. »He, sieh mal, genau so ein Boot wie sie draußen an den Stegen liegen.«
Sie gehen zum nächsten Bild. »Ein Schwimmer?«
»Ja,
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