Zwoelf Schritte
schlagen würde. Habe ich wirklich geglaubt, dass sie angerannt kommen würde, damit ich sie tröste, wir zusammen im Bett landen und beschließen, gemeinsam ein neues Leben zu beginnen? In Gedanken beschimpfe ich mich wüst und möchte am liebsten im Boden versinken vor Scham. Ich nehme den blauen Versammlungskalender von Jón Ágúst und schaue nach, welche Meetings er donnerstags besucht hat. Ein Gay-Meeting am Laugavegur ist angestrichen, ich hole tief Luft und ziehe meine Jacke an.
Entgegen meiner Erwartung sind bei diesem Meeting nicht nur Männer, sondern auch Frauen anwesend. Ich weiß nicht, wie ich meine Anwesenheit erklären soll. Deshalb bin ich froh, dass das Meeting gerade beginnt. Ich setze mich zur Rechten des Meetingleiters und hoffe, dass ich als letzter Redner an der Reihe bin und die Versammlung vielleicht bis dahin vorbei ist. Ich könnte einfach nur dasitzen und zuhören. Die einleitenden Worte haben eine beruhigende Wirkung auf mich. Das unbeholfene Gespräch mit Iðunn erscheint mir nicht mehr ganz so idiotisch, und es ist mir auch nicht mehr so unangenehm, hier zu sein. Der Vorsitzende spricht über den dritten Schritt, mit dem er gerade zu kämpfen hat: seinen Willen und sein Leben in die Fürsorge Gottes zu übergeben. Nachdem er seine kurze Rede abgeschlossen hat, dreht er sich nach rechts. Ich soll mich als Erster äußern. Dabei war ich mir so sicher, dass er die andere Richtung wählen würde, und bin gänzlich unvorbereitet. Mit halboffenem Mund sitze ich da und stammle etwas vor mich hin. Ich kann nicht sagen, dass ich im Auftrag der Polizei hier bin, und murmle, dass ich frisch aus dem Entzug komme und verschiedene Meetings ausprobiere in der Hoffnung, dass ich auch als Heterosexueller hier willkommen bin.
Die anderen lächeln mir freundlich und aufmunternd zu, und ich spreche darüber, wie ich nach dem Entzug Lust auf Alkohol verspürte und wie ich damit umgegangen bin. Ich bin froh, dass ich mich aufrichtig äußern kann. Damit erfüllt das Meeting seinen Zweck und lässt meine eigentliche Aufgabe, die Teilnehmer zu bespitzeln, in den Hintergrund treten. Nach mir spricht ein blutjunges Mädchen über das Elend des Drogenkonsums, wie sie sich auf der Straße herumgetrieben hat, nachdem ihre Familie sie rausgeschmissen hatte, und wie dankbar sie ist, dem Teufelskreis entkommen zu sein. Sie ist kaum älter als siebzehn, achtzehn, also muss sie sehr jung gewesen sein, als sie mit Alkohol und Drogen in Kontakt kam. Neben ihr sitzt ein älterer Herr. Er ist elegant gekleidet, vielleicht etwas zu elegant für einen Donnerstag, und der Duft seines Rasierwassers erfüllt den Raum. Er hat den Entschluss gefasst, mit dem Trinken aufzuhören, als er das erste Mal an der Seite eines Mannes erwacht ist. Er hat wohl Glück gehabt; Iðunn all die Jahre in meinen Armen zu halten hat bei mir nicht ausgereicht, das Trinken aufzugeben. Anschließend übernimmt eine dunkelhaarige Frau das Wort, die ich auf circa vierzig schätze. Ich bin froh, dass sie endlich an die Reihe kommt, da es schwierig ist, sie nicht anzustarren. Sie ist einer der wenigen Menschen, die wirklich schön sind. Nicht niedlich oder hübsch, sondern schön, sodass einen Bewunderung und das Bedürfnis überkommt, sie anzugaffen. Ich kenne sie aus den Medien. Sie ist die Kuratorin des großen Kunstmuseums in Reykjavík und die Erbin einer der reichsten Familien des Landes. Ich hatte keine Ahnung, dass sie lesbisch ist. Sie spricht über ihre Arbeit und wie froh sie ist, dass sie vor einigen Jahren mit dem Trinken aufgehört hat. Nun kann sie alle schwierigen Aufgaben im Job viel besser bewerkstelligen, weil sie sich auf sich selbst verlassen kann und die richtigen Entscheidungen trifft. Ich betrachte ihr dunkles, lockiges Haar, während sie spricht, was mich an jemand anderen mit dunklem Haar denken lässt, das meine Finger nur zu gut kennen, und ich beginne mich wieder zu schämen, dass ich mich Iðunn gegenüber so danebenbenommen habe. Da beginnt die schöne Frau über den Glauben zu reden, was meine Aufmerksamkeit in die Gegenwart zurückbefördert. Wie schmerzlich die Ablehnung der Kirche sie getroffen habe. Um den Segen der Kirche zu erhalten und Gott gefällig zu sein, dachte sie, müsse sie zugeben, dass ihre Gefühle sündig seien. Aber sie könne nicht mit der Sichtweise leben, dass das Beste und Schönste, was sie in ihrem Herzen trage – Liebe und Zuneigung einem anderen Menschen gegenüber –, eine Sünde sei.
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