Zwoelf Schritte
Notizblock.
«Tut mir leid», antwortet er. «Ich muss gestehen, dass ich manchmal nur mit einem Ohr zugehört habe.»
«Noch eine Frage», beeile ich mich zu sagen, da ich an Iðunns Miene erkennen kann, dass sie sich von ihm verabschieden will. «Das kleine Landschaftsbild an der großen Wand neben dem Gemälde von Tolli, weißt du, von wem es ist?»
«Dort hängt kein Bild.»
Er schaut uns abwechselnd mit fragendem Blick an. Iðunn greift in ihre Tasche, nimmt die DIN -A4-Fotos heraus und zeigt sie ihm.
«Ja, das hier, das war oben im Schlafzimmer. Ich weiß nicht, von wem es ist. Nonni hatte es schon, bevor ich ihn kennengelernt habe. Es war einfach immer da. Ich denke nicht viel über solche Dinge nach.»
Iðunn und ich schauen uns einen Augenblick in die Augen, und ich weiß, dass wir dasselbe denken. Der Mörder hat sich die Mühe gemacht, das Bild woanders aufzuhängen, was darauf hindeutet, dass es eine symbolische Bedeutung haben muss. Árni kreuzt auf meinem Kalender die Meetings an, die Jón Ágúst am häufigsten besucht hat, und bevor er geht, spreche ich ihm mein aufrichtiges Beileid aus. Iðunn bittet ihn, sich zu melden, falls ihm noch etwas einfallen sollte.
«Wir müssen noch wohin», sagt Iðunn, als wir das Restaurant verlassen, und geht zielstrebig auf den Wagen zu, den sie verbotenerweise auf dem Gehsteig geparkt hat. Ich setze mich brav neben sie und habe nichts dagegen, noch etwas länger mit ihr zusammen zu sein. Sie fährt los, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich genieße es, ihre Miene zu studieren und mir in Erinnerung zu rufen, wie oft ich an ihrer Seite im Bett oder auf dem Sofa gelegen und sie einfach angeschaut habe, während sie las, fernsah oder schlief. Sie hält oberhalb vom Busbahnhof Hlemmur, und wir betreten eine große Kunsthandlung gegenüber von der Bank. Iðunn bittet die Angestellte, mit dem Besitzer sprechen zu dürfen, der mit der Brille halb auf der Nase und einem Stapel Papier in der Hand nach vorne kommt. Er hat sich gerade mit der Buchhaltung beschäftigt.
«Wir wollten dich um Hilfe bitten», sagt sie und zeigt ihm ihren Polizeiausweis. «Kriminalpolizei.» Der Mann nimmt seine Brille von der Nase und mustert uns. Ich fühle mich nicht ganz wohl in meiner Haut, einem leicht schockierten Bürger gegenüberzutreten, der mich für einen Kriminalbeamten hält. Iðunn zeigt dem Mann das Foto von dem kleinen Gemälde, das er sich mit der Brille auf der Nase anschaut. Dann sagt er:
«Ich glaube, ich weiß, von wem das ist.» Er geht nach hinten und kommt mit einem Vergrößerungsglas wieder, das er auf die Signatur hält. «Ja, ich wusste es. Dieses Bild ist von Kristinn Morthens. Ich muss das Bild im Original sehen, wenn ihr es schätzen lassen wollt.»
«Vielen herzlichen Dank», sagt Iðunn und steckt das Foto wieder in ihre Tasche. Auf einmal verbinden sich die losen Fäden, und wir schauen uns draußen auf dem Gehsteig einen Augenblick an.
«Ist Kristinn Morthens nicht …?»
«Doch», unterbricht mich Iðunn, «er war der Vater von Tolli.»
«Also hat der Mörder es so inszeniert: Vater und Sohn auf je einer Seite des Gekreuzigten.»
«Ich werde die Techniker darum bitten, die Wandbefestigung zu untersuchen», sagt Iðunn.
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Drittes Kapitel Fürsorge
Nach unserer heutigen Entdeckung fällt es mir schwer, das Unbehagen abzuschütteln. Jedes Mal, wenn ich daran denke, dass jemand sich einen Spaß daraus gemacht hat, die Gemälde in Jón Ágústs Wohnung neu anzuordnen, überkommt mich ein Schaudern. War der Mörder ins Haus eingedrungen und hatte die «Inszenierung» bereits vorbereitet, als Jón Ágúst nach Hause kam? Oder hat er den Mörder gekannt und hereingelassen? Hat ihn die Neuanordnung der Bilder amüsiert, nachdem er Jón Ágúst gekreuzigt hatte? Der Gedanke, dass ein Mensch unter Qualen am Kreuz hängt, während jemand mit Hammer und Nägeln herumfuhrwerkt, ist beinahe zu unerträglich, um real zu sein. Ich überlege immer wieder, ob der Mörder das alles allein bewerkstelligt hat. Das Holzkreuz scheint schwer zu sein, und wenn ein Mann daran befestigt ist, ist es fast ein Ding der Unmöglichkeit, es an der Wand aufzustellen. Vielleicht waren auch zwei oder mehr daran beteiligt, doch die Vorstellung ist noch unwirklicher, dass zwei Menschen einmütig eine solch furchtbare Tat begehen. Es scheint logischer, von einem einzelnen geisteskranken Täter auszugehen. Meine Gedanken drehen sich immerzu im Kreis, ich
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