Zwoelf Schritte
Ich höre zum ersten Mal, dass jemand durch die Ablehnung der Institution verletzt worden ist, und ich überlege mir, wie Jón Ágústs Verhältnis zur Kirche aufgrund dieser Ablehnung gewesen sein mag. Nach der schönen Frau ergreift ein junger Mann das Wort. Er ist ein stämmiger Kerl mit stierartigem Hals, in abgewetzter Jeans und mit rasiertem Schädel.
«Gott hasst Schwuchteln», sagt er. «Darum hasse ich Gott und die Kirche und diesen ganzen Scheiß. Ich betrachte die Meetings als meine höhere Macht.» Diese Worte bohren sich tief in mein Gedächtnis, sodass ich kaum mitkriege, was danach noch gesagt wird. Ich verlasse das Meeting mit der Gewissheit, dass die Kreuzigung irgendeine symbolische Bedeutung haben muss und sie in Verbindung mit Jón Ágústs Homosexualität steht. Auf dem Nachhauseweg lasse ich den Gedanken freien Lauf und gehe verschiedene Möglichkeiten durch. Ein gekreuzigter Schwuler. Bedeutet das, dass er ein zeitgenössischer Märtyrer ist? Ein Vertreter derer, die gegenüber den modernen religiösen Mächten ihren Unmut kundgetan haben? Oder ist die Kreuzigung der Ausdruck eines Extremisten, der Homosexuelle ablehnt? Ich beschließe, mir beim Videoverleih einen Film zu borgen, damit ich vor dem Zubettgehen noch an etwas anderes denken kann.
Iðunn weckt mich, als sie am nächsten Morgen bei mir an der Tür klingelt. Ich habe wie ein Stein geschlafen und mich beim Klingeln des Weckers eine Stunde zuvor nicht gerührt. Ich gehe zerzaust und unrasiert zur Tür und fühle mich, als ob ich Sand in den Augen hätte, sodass ich sie kaum offen halten kann. Iðunn beugt sich vor und gibt mir einen Kuss auf die Wange, und ich spüre, wie sie in dem Moment, in dem sie mich küsst, an mir schnuppert. Ich weiß, was das zu bedeuten hat.
«Ich bin immer noch nüchtern», sage ich, und obwohl ich ihr Misstrauen verstehe, verletzt es mich ein wenig. Sie antwortet nicht, lässt aber einen Moment lang den Kopf hängen.
«Hast du Tee?», fragt sie und steuert auf die Küche zu.
«Ja, koch du Tee und Kaffee, während ich mich anziehe», sage ich und reiche ihr Espressokanne und Teepackung.
«Du siehst so niedlich aus in diesem Schlafanzug», sagt sie lächelnd, als ich die Küche verlasse. Mein Gesicht wird heiß und mein Herz pocht, während ich mich anziehe. Wie ein Teenager kann ich mich nicht entscheiden, welches Hemd ich zur Jeans tragen soll. In Windeseile rasiere ich mich, putze mir die Zähne, mache meine Haare nass und kämme sie. Zudem trage ich ein bisschen Rasierwasser auf. Der Duft steigt mir einen Augenblick zu Kopf, und ein mächtiges Verlangen nach Alkohol überkommt mich, das aber sogleich wieder verschwindet.
«Bitte schön, mein Herr», sagt Iðunn und reicht mir eine Tasse duftenden starken Kaffee.
«Hast du schon gefrühstückt?», frage ich und hole Zimtschnecken und Brot aus dem Schrank.
«Ja», sagt sie. «Seit wann frühstückst du denn?»
«Seit dem Entzug», antworte ich und stopfe eine ganze Schnecke in mich hinein. Kauend bestreiche ich mir zwei Scheiben Brot mit Butter und lege eine Scheibe Käse dazwischen. Iðunn schaut mich befremdet an, als ob sie nicht glauben kann, dass ich über neue Eigenschaften verfüge und ein anderes Benehmen an den Tag lege.
«Wir werden bei Atli Eyjólfsson auf der Arbeit vorbeischauen», sagt sie. «Er verlegt im Moment die Elektrik in einem Block im Smári-Viertel.»
«Weiß er, dass wir kommen?»
«Nein. Ich halte es für besser, wenn er keine Zeit hat, sich darauf vorzubereiten.»
Während der Fahrt schweigen wir und lauschen dem Quietschen der abgenutzten Scheibenwischer, die sich mit dem Schnee abmühen. Der herumwirbelnde gefriergetrocknete Pulverschnee bleibt an der warmen Windschutzscheibe kleben. Ich betrachte dann und wann Iðunns Gesichtsausdruck und wünsche mir, ich könnte ihre Gedanken lesen. Zumindest die Gedanken, die mich betreffen. Was meint sie damit, dass ich in diesem Schlafanzug niedlich aussehe? Gibt sie mir zu verstehen, dass sie immer noch Gefühle für mich hat, oder ist es ihr in einem nostalgischen Anflug einfach herausgerutscht? Das kenne ich nur zu gut, alte Erinnerungen werden bei mir allein schon dadurch heraufbeschworen, dass ich mit ihr zusammen bin, und ich vermisse es sehr, sie zu berühren, sie in den Arm zu nehmen und ihren warmen Körper zu spüren.
Oberhalb vom Smári-Viertel steigen wir in einem fast fertiggestellten Wohnblock über Elektrorohre und Farbeimer. Ein polnischer Handwerker
Weitere Kostenlose Bücher