Zwoelf Schritte
schickt uns durch den Flur in den zweiten Stock hinauf. Atli arbeitet in der Wohnung 2 b. Im Haus hängt ein starker Geruch von Farbe und Leim, vermischt mit dem feuchten Geruch von frischem Beton. Wir gehen die Treppe hinauf, wenden uns allerdings in die falsche Richtung, und ein weiterer Pole zeigt uns den richtigen Weg. Die Wohnung 2 b verfügt wie die anderen Wohnungen über keine Tür, also treten wir einfach ein. Auf dem Boden des Wohnzimmers kniet ein Mann im Blaumann und müht sich mit einer Steckdose ab. Er dreht uns den Rücken zu, als wir eintreten, und hört uns nicht wegen der lauten Musik im Radio. Iðunn ruft:
«Bist du Atli Eyjólfsson?» Er dreht sich um und steht auf. Ich erkenne den stierartigen Hals und den rasierten Schädel.
«Sind wir uns nicht gestern beim Meeting begegnet?», fragt er.
«Doch, das stimmt», bestätige ich. Iðunn holt ihren Dienstausweis hervor und hält ihn ihm unter die Nase.
«Wir müssen mit dir reden», sagt sie in einem autoritären Tonfall.
«Worüber?», fragt Atli und schaut uns abwechselnd misstrauisch an.
«Über Jón Ágúst Karlsson.» Iðunn starrt Atli konzentriert an, um seine Reaktion zu erkennen.
«Fuck!» Er dreht sich um und starrt einen Augenblick zu Boden. «Am besten treffen wir uns im Café in Smári. Ich will auf keinen Fall mit der Polizei hier gesehen werden, also geht ihr vielleicht besser voraus.» Ich habe das Gefühl, dass sein Blick mich durchbohrt.
«Selbstverständlich», sagt Iðunn, stößt mich an, und wir machen uns auf den Weg.
«Wird er nicht abhauen?», flüstere ich Iðunn zu. Ich spüre immer noch seinen unfreundlichen Blick im Rücken.
«Das wäre ein Hinweis, dass er etwas zu verbergen hat», meint Iðunn vollkommen gelassen. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass sie es spannend fände, wenn er abhauen würde.
«Ich habe ihn gestern bei einem Meeting getroffen», sage ich. «Ich wusste natürlich nicht, dass er es ist.»
«Was war das für ein Meeting?», fragt sie.
«Ein Schwulen-Meeting», antworte ich und amüsiere mich über Iðunns verwunderten Gesichtsausdruck. Jetzt ist es mir erneut gelungen, sie zu überraschen.
«Du bist also ins kalte Wasser gesprungen!», ruft sie anerkennend. «Irgendwie habe ich vermutet, dass du die Meetings hinausschiebst, bis der Fall gelöst ist.»
«Ich habe dir gesagt, dass ich mich verändert habe», erwidere ich selbstzufrieden. «Ich werde Dinge nicht mehr aufschieben und arbeitsscheu sein.»
«Soso. Dann hat es sich ja gelohnt, denn jetzt wissen wir, dass die beiden an denselben Meetings teilgenommen haben.»
«Ja», sage ich und überlege mir, ob ich die Vertraulichkeit des Meetings missbraucht habe, und die Erinnerung an den gekreuzigten Mann an der Wand verblasst bei dieser Überlegung. Im Café bestellen wir etwas zu trinken, Iðunn entscheidet sich für eine Cola, ich nehme einen starken doppelten Espresso und schaufle eine Unmenge Zucker hinein. Es ist, als ob alle Genüsse, die vorher im Zusammenhang mit dem Alkoholkonsum unwichtig waren, nun ein verstärktes Wohlbefinden hervorrufen, und ich freue mich auf den Kaffee.
«Was wollt ihr wissen?», fragt Atli, als er sich hinsetzt. Zuvor hat er sich aus einer großen silbrigen Kaffeekanne bedient, die anscheinend extra für die Handwerker im Viertel bereitsteht. Er trägt noch immer den Blaumann, aus der Brusttasche lugen Schraubenzieher und Zangen heraus. Er hat leicht Zugang zu Werkzeug und weiß genau, wie man ein riesiges und schweres Kreuz an der Wand befestigen muss.
«Wie gut hast du Jón Ágúst gekannt?», fragt Iðunn.
«Stehe ich etwa unter Verdacht, oder was?» Er ist nervös. «Ich wusste bis vor zwei Tagen nicht mal, dass er ermordet worden ist.»
«Nein, nein, wir reden einfach mit allen, die unserer Meinung nach vielleicht etwas Licht ins Dunkel bringen können, und dein Name ist in dem Zusammenhang aufgetaucht, du sollst ein Auge auf ihn geworfen haben», erklärt Iðunn ruhig.
«Hast du mich gestern etwa ausspioniert?» Er sieht mich mit argwöhnischem Blick an.
«Nein, das war eigentlich purer Zufall», antworte ich. «Ich habe gerade den Entzug hinter mir, wollte einfach zu einem Meeting und wusste nicht, dass du Atli bist.» Er schaut mich einen Moment misstrauisch an, scheint sich dann aber etwas zu entspannen und kommt aus der Defensive.
«Ich fand Jón Ágúst schon prima. Ein flotter Kerl, für sein Alter gut gebaut und alles, aber es lief nichts zwischen uns.»
«Aber du
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