Zwoelf Schritte
recht. Der Mörder hat beide Bilder umgehängt; das Gemälde von Tolli war vorher in der Mitte, da wo das Kreuz hing, also hat er es zur Seite gehängt, und das Bild seines Vaters war oben im Schlafzimmer, das hat er unten wieder aufgehängt. Für das Tolli-Bild musste er ein Loch bohren, weil es so schwer ist, doch das kleine Bild hing an einem Stahlnagel.»
«Dann hat er also genügend Zeit gehabt», überlege ich.
«Es scheint so.» Iðunn gibt mir den Namen und die Adresse des Pfarrers, den Atli verprügelt hat, und wir legen auf.
Der Pfarrer wohnt in einem kleinen Einfamilienhaus im Þingholt-Viertel. Es ist ein altes Steinhaus, das wohl schon vor der richtigen Straßenplanung dort gestanden hat, denn das Haus ragt etwas schräg über die Straße, sodass der Gehsteig schmal ist und an der Hausecke gänzlich verschwindet, um auf der anderen Seite wieder aufzutauchen.
Elís Pétursson
steht auf dem kleinen goldenen Namensschild oberhalb des Briefschlitzes. Als ich eintrete, muss ich wegen des niedrigen Türrahmens den Kopf einziehen. Im Haus sind die Decken jedoch ungewöhnlich hoch, weil die obere Etage teilweise herausgerissen worden ist, sodass man zum Teil bis zum Dach schauen kann.
«Darf ich dir Kaffee oder Tee anbieten?», fragt er freundlich, und ich erwidere, dass ich sehr gerne einen Kaffee nehme. Er geht in die Küche, ich höre Klappern und rufe ihm nach, dass er sich meinetwegen keine Umstände machen soll, bin dann aber doch froh, als er mit Apfelkuchen und geschlagener Sahne zurückkommt. Er ist durchschnittlich groß und schlank, seine Bewegungen sind weich, beinahe feminin. Er trägt eine blaue Jeans mit Bügelfalte und ein weißes Hemd, das am Hals aufgeknöpft ist. Pfarrer sind gut angezogen und sehen immer aus, als hätten sie Sonntagskleidung an.
«Was genau untersuchst du denn?», fragt er, nachdem er mir Kaffee eingeschenkt und großzügig Kuchen serviert hat.
«Eigentlich wissen wir das selber nicht genau», sage ich wahrheitsgemäß. «Aber wie ich dir bereits erklärt habe, stehe ich der Polizei in einer Ermittlungssache mit Rat und Tat zur Seite.»
«Und was kann ich für dich tun?» Er schaut mich mit seinen großen braunen Augen an, die irgendwie an einen Welpen erinnern. Wie er mir so gegenübersitzt, erkenne ich, dass er eine Narbe auf der Stirn und quer über der Nase hat. Auf den ersten Blick ist sie mir nicht aufgefallen, doch durch die tiefe Morgensonne, die durch das Fenster direkt auf ihn scheint, ist sie deutlich zu sehen.
«Ich dachte, ich könnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, wenn ich dich treffe», sage ich. «Einerseits habe ich gehofft, dass du mir etwas über die Gewalttat erzählst, der du vor einigen Jahren zum Opfer gefallen bist, und andererseits brauche ich einige Infos über religiöse Symbolik und dachte, dass du mir vielleicht weiterhelfen kannst, da du Pfarrer bist.»
«Ich bin kein Pfarrer mehr», sagt er. «Nach dem Übergriff und den entsprechenden Berichten in der Presse hielt es der Ausschuss der Kirchengemeinde für ratsam, dass ich mein Amt nach dem Krankheitsurlaub nicht wieder antrete. Und ich habe seither kein Brot mehr austeilen dürfen, zumal alle nun wissen, dass ich schwul bin.» Er spricht ruhig und besonnen, als ob er abwesend wäre und sein Körper für ihn spräche. Ich kaue den Apfelkuchen und überlege, ob sich hinter seinen Worten ein übertriebener Verfolgungswahn verbirgt. Bekanntermaßen suchen viele Pfarrer eine Stelle, und es ist schwierig, eine gute zu finden.
«Was die Gewalttat angeht», fährt er fort, «ich habe so weit wie möglich mit der Sache abgeschlossen.»
«Meinst du damit, dass du dich davon erholt hast oder dass du dem Täter, Atli Eyjólfsson, vergeben hast?», frage ich und versuche, mich beim Kuchen etwas zu bremsen, da es unangebracht scheint, ein so ernstes Thema mit vollem Mund anzugehen.
«Ja, ich habe mein Gleichgewicht wiedergefunden, in dem Maße, wie es die menschliche Eigenschaft, aus der Erfahrung zu lernen, zulässt. Ich würde nie wieder einen fremden Mann am ersten Abend zu mir nach Hause einladen, ich würde ihn zuerst besser kennenlernen wollen. Ich bin in dieser Beziehung nun wie eine Frau», sagt er im selben abwesenden Ton und schaut lächelnd auf seinen Teller. «Das mit dem Vergeben war etwas komplizierter, und obwohl ich ein Mann Gottes bin und mich auf das Vergeben verstehen sollte, ist die beste Definition der Vergebung diejenige, dass Vergeben dem Vergessen gleichkommt.
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