Zwoelf Schritte
Sofa auf den Boden und holt eine große Bibel hervor. Das Buch ist in dunkelbraunes Leder gebunden und an den Ecken ziemlich abgewetzt. Der Pfarrer hat blind danach gegriffen. «
Eloi Eloi lama sabachthani? Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Er hat vielleicht einen Augenblick befürchtet, dass Gott ihn verlassen hat, doch er hat nie an seiner Existenz gezweifelt. Einige betonen sogar, dass er nie geglaubt hat, dass Gott ihn verlassen hat, sondern dass er von seiner eigenen göttlichen Kraft gesprochen hat, da sowohl im Aramäischen wie im Hebräischen Gott und die Kraft dasselbe Wort ist.»
Ich spüre, wie mein Kopf müde wird, und traue mir keinen zweiten Vortrag mit Zitaten aus dem Evangelium zu, also frage ich ihn, was ihm zuerst einfalle, wenn er an die Symbolik von Vater und Sohn im Christentum denkt.
«Da fällt mir spontan Matthäus ein.
Niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will.
Ich finde, dass dieser Satz das Verhältnis zwischen Vater und dem Gottessohn am besten aufzeigt. So auf die Schnelle und ohne nachzuschauen», sagt er und lächelt. Ich bedanke mich bei ihm für das Gespräch und den Kaffee und Kuchen, doch an der Tür fällt mir auf einmal noch etwas ein, und ich frage ihn, ob er Jón Ágúst Karlsson gekannt hat.
«Ja, ich habe ihn ganz gut gekannt. Wir waren sowohl Gemeinschaftsbrüder, wie du es nennst, und zudem waren wir beide in einem Club, dessen Mitglieder einmal im Monat zusammen mit anderen Berufsgruppen zu Mittag essen. Ich werde ihn vermissen, er war ein intelligenter und umsichtiger Mensch. Untersuchst du vielleicht seinen Tod?»
«Die Sache steht damit in Zusammenhang», sage ich.
«Aber Atli Eyjólfsson steht doch nicht unter Verdacht?» Sein Gesicht ist von einem entsetzten Ausdruck verzerrt.
«Ich kann dir eigentlich dazu nichts sagen», antworte ich und beschließe, den sicheren Weg zu wählen, da ich nicht genau weiß, wie weit die Schweigepflicht geht.
«Ich habe ihn vor Atli gewarnt», stöhnt er und setzt sich auf einen kleinen Hocker in der Diele, als ob seine Füße ihn nicht mehr länger tragen könnten. «Ich habe sie vor etwa einem halben Jahr zusammen in einem Café gesehen, und als ich Jón Ágúst das nächste Mal im Club traf, habe ich ihm gesagt, dass er sich vor dem Jungen in Acht nehmen soll, da seine Hand locker sitzt.»
«Wie hat Jón Ágúst das aufgenommen?»
«Er hat mir gesagt, dass ich mir keine Sorgen machen solle, es handle sich lediglich um eine Zusammenarbeit an einem Projekt. Dass seine Hand locker sitzt, das habe ich gesagt. Wenn ich es genauer erklärt hätte, könnte er dann noch am Leben sein?» Er formuliert es als Frage, sodass ich das Gefühl habe, ihm eine Antwort schuldig zu sein. Sein Gesicht ist vollkommen verzerrt vor Entsetzen, ich muss ihn irgendwie beruhigen.
«Atli ist nur eine von vielen Möglichkeiten, die wir untersuchen, es gibt im Grunde genommen nichts, was darauf hindeutet, dass er es war», erkläre ich, und auch wenn es mir gegen den Strich geht, ist es die Wahrheit, es gibt keine direkten Beweise, die Atlis Schuld belegen, keine, außer dass er mir verdächtig vorkommt. Ich bin kein erfahrener Ermittler, und meine Gefühle und Wahrnehmungen sind nach dem Alkoholmissbrauch und dem Entzug immer noch so intensiv, dass ich meiner Eingebung nicht besonders trauen kann.
Auf dem Weg über den Hügel überlege ich, was der Mörder für eine Botschaft hinterlassen wollte mit dieser grausamen, aber bedeutungsvollen Inszenierung der Leiche. Betrachtete er Jón Ágúst als Sünder, der seine Sünden beichten musste, um in das Himmelreich zu kommen? Oder war die Kreuzigung ein Symbol dafür, dass Glauben befreiend sein konnte? Oder sollte die Kreuzigung vielleicht Jón Águst den Glauben näherbringen?
Geir und ich treffen uns im selben Café wie am Abend zuvor. Er ist schon vor mir da und hat bereits für uns beide Kaffee bestellt, als ich mich ihm gegenüber hinsetze.
«Du kommst spät», meint er, ohne aufzublicken.
«Ja, bitte hab Verständnis», sage ich, «eine kleine Jobsache.» Es ist gerade mal acht Minuten nach eins, weswegen mich die Bemerkung überrascht. Es ist offensichtlich, dass er im Ausland gelebt und sich an die Pünktlichkeit dort gewöhnt hat, zumal die Isländer es mit der Zeit nicht so genau nehmen.
«Genau das ist es, was es mit dem Nüchternsein auf sich hat», meint er, «die Unordnung in
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