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Zwoelf Schritte

Zwoelf Schritte

Titel: Zwoelf Schritte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilja Sigurdardóttir
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In dieser Hinsicht, ja, ich habe Atli vergeben. Es vergehen manchmal ein paar Tage, ohne dass ich daran denke. Die Narbe im Gesicht ist ein Teil von mir geworden, und wenn ich sie im Spiegel sehe, betrachte ich sie nicht länger als Erinnerung.»
    «Glaubst du, dass Atli gewusst hat, dass du Pfarrer bist?», will ich wissen.
    «Ja, klar, er war vorher zweimal bei mir im Gottesdienst gewesen. Deswegen, glaube ich, hat er mich an dem Abend in der Bar überhaupt angesprochen. Er wollte unbedingt über Gott und kirchliche Themen diskutieren, und ich fand ihn ziemlich aufgeweckt und unterhaltsam.»
    «Hast du Atli seither wiedergesehen?»
    «Ja, wir bewegen uns sozusagen in denselben Kreisen, auch wenn ich nie mit ihm gesprochen habe. Wir wechseln nur ein paar Worte, wenn er mit den Blumen zu mir kommt.» Ich schaue Elís fragend an. «Er kommt jedes Jahr zu Ostern mit Blumen für mich, es ist in der Osterzeit passiert. In seinem letzten Jahr im Gefängnis hat er angefangen, mir welche zu schicken, und seitdem kommt er immer persönlich vorbei. Ich habe ihm letztes Jahr gesagt, dass er das nicht tun müsse, doch er hat geantwortet, dass er es für sich selber tue.» Ich suche nach den richtigen Worten, denn ich will wissen, ob er mit denselben Kreisen die Anonymen Alkoholiker meint, doch mir fällt nichts Besseres ein, als ihn zu fragen, ob Atli und er vielleicht «Gemeinschaftsbrüder» seien.
    «Gemeinschaftsbrüder, ja», sagt er und lächelt. «Wahrscheinlich hat dieses Ereignis uns beide von der Trinksucht weggebracht.»
     
    «Wenn wir gerade von Ostern reden», sage ich. «Was bedeutet eigentlich die Kreuzigung?»
    «Tja, das kann man natürlich sehr individuell auslegen.»
    «Aber die Symbolik der Kreuzigung, ganz allgemein betrachtet?», hake ich etwas ungeduldig nach.
    «Die Kreuzigung symbolisiert einerseits die Vergebung der Sünden, und andererseits ist sie ein Glaubensbekenntnis.»
    «Du meinst mit der Vergebung der Sünden, dass Jesus am Kreuz gestorben ist für das Seelenheil der Menschen?»
    «Ja, aus diesem Grund, aber auch aus einem anderen, den sich die Leute meist nicht überlegen: Zusammen mit ihm sind zwei Sünder gekreuzigt worden, und sie sind es, die uns den Weg ins Himmelreich zeigen. Sieben Worte Jesu am Kreuz sind bekannt, doch die werden nie alle zusammen genannt, sondern sie stammen aus allen Evangelien.»
    «Ich kann mich aus dem Bibelunterricht irgendwie daran erinnern.»
    «Das kann gut sein», sagt er und fährt fort: «Im Johannesevangelium wird erwähnt, dass Jesus drei Sätze am Kreuz gesagt haben soll. Es sind eher weltliche Sätze, die jeder in seiner Todesstunde sagen könnte. Zuerst sorgte er dafür, dass einer seiner Jünger seine Mutter Maria zu sich nehmen solle, was dieser auch tat. Die Katholiken legen großen Wert auf diese Worte und sagen, dass sich daraus die Wichtigkeit Marias für die Kirche manifestiert. Als Zweites sagt Jesus gemäß Johannes:
Mich dürstet
, was in Anbetracht der Umstände nur natürlich ist und eigentlich in keiner Weise in einem tieferen Sinn gedeutet werden kann. Als Drittes sagt er dann:
Es ist vollbracht
, kurz bevor er stirbt. Nach Lukas soll er aber gesagt haben:
Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist
, was seinen starken Glauben bis kurz vor dem Tod bekräftigt. Lukas erwähnt ebenfalls Folgendes:
Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun
, als die Menge schrie, was uns vor allem den eigentlichen Charakter Jesu vor Augen führt und uns lehrt, dass Rachegelüste nicht die richtige Reaktion auf die bösen Taten der anderen sind. Das ist der Satz Jesu, der mir am meisten geholfen hat in Bezug auf den Übergriff und in der Kommunikation mit meinen ehemaligen Vorgesetzten. Wie Lukas erzählt, war der Dieb, der mit ihm gekreuzigt wurde, so von Angst überwältigt, dass er seine Sünden bereute und Jesus zurief, er solle doch ein gutes Wort für ihn im Himmel einlegen, worauf Jesus erwiderte:
Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein
, was uns zeigt, dass mit dem Glauben und dem Bereuen der Sünden auch den gewöhnlichen und schwachen Menschen der Weg zum Himmelreich offen steht. In diesem Sinne ist die Kreuzigung ein Symbol für den Sündenerlass. Doch vor allem anderen ist die Kreuzigung, allgemein betrachtet, ein Symbol für den Glauben: Jesus zweifelte nicht einmal am Kreuz.»
    «Aber wenn er sagt:
Vater, warum hast du mich verlassen?
»
    «Ja, das ist der siebte Satz, der ihm nachgesagt wird.» Er beugt sich neben dem

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