Zwoelf Schritte
Täglich kochte sie ihm sein Lieblingsessen, damit er nicht mit seinen Freunden in die Kneipe ging. Man durfte nichts Unbedachtes sagen, um ihn nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen.»
«Diesen Stress kenne ich», werfe ich ein, «so war das bei uns auch, allerdings war mein Vater kein Quartalssäufer, sondern trank permanent.»
«Dann bist du genauso aufgewachsen wie ich.» Sie lächelt.
«Ja», antworte ich, «sieht ganz danach aus.» Wir schauen uns in die Augen, und ich spüre einen leichten Stromstoß vom Nacken den Rücken hinunter. Eine gewisse Spannung liegt zwischen uns.
«Die Abstände zwischen seinen Sauftouren wurden immer kürzer und damit auch die guten Zeiten. Er trieb sich mehr oder weniger den ganzen Sommer draußen herum, und ich tat so, als ob ich ihn nicht kennen würde, wenn ich ihn auf der Straße traf. Ich wollte nicht, dass jemand wusste, dass mein Vater ein Trunkenbold ist. Aber das Schlimmste war, dass er nicht für seine Familie da war und meine Mutter sich in vielen Dingen an ihren Bruder wandte, der jede Gelegenheit nutzte, sich an uns Schwestern zu vergreifen, sobald meine Mutter wegschaute.»
«Zum Teufel», entfährt es mir, mehr fällt mir dazu nicht ein. Nicht viele Worte können meine Abscheu gegenüber Leuten beschreiben, die ihre Vertrauensposition gegenüber Kindern missbrauchen.
«Ja.» Sie lächelt wieder, als ob sie das nicht länger berühren würde, sondern nur eine ferne Erinnerung ist. Das ist wahre Gelassenheit.
«Du hast dich intensiv damit auseinandergesetzt», stelle ich fest, und sie bejaht und lächelt immer noch, sodass die blauen Augen schräg stehen und sich das Grübchen im Kinn vertieft.
«Aber es hat trotzdem seine Zeit gebraucht; die Sucht war zuerst eine Art Lösung für mich, aber schuf dann ihre eigenen Probleme. Ich habe auch Drogen genommen, erst Shit und dann Amphetamine, bis es schwierig wurde mit der Finanzierung. Du weißt, dass ich Stripperin war?» Die Frage trifft mich unvorbereitet, und ich zögere mit der Antwort.
«Nein, das habe ich nicht gewusst.»
«Du würdest vielleicht nicht hier mit mir sitzen, wenn du es gewusst hättest?»
«Warum nicht?»
«Ach, Männer können manchmal sehr merkwürdig sein», sagt sie und zuckt mit den Schultern.
«Die meisten Alkoholiker haben dunkle Flecken in ihrer Vergangenheit, auf die sie nicht stolz sind.» Ich denke daran, wie ich Abend für Abend tot auf dem Sofa lag und Iðunn nebenan im Bett weinte.
«Warum gehst du davon aus, dass ich nicht stolz darauf bin, Stripperin gewesen zu sein?», fragt sie ein wenig spitz, und in ihren Augen spiegelt sich Wachsamkeit. Das Grübchen ist verschwunden, und ihr vertrautes munteres Lächeln ist einem höhnischen Zug gewichen.
«Ich habe einfach angenommen, dass du immer noch als Stripperin arbeiten würdest, wenn das dein Traumjob wäre.» Ich suche wieder den Augenkontakt mit ihr. «Ich glaube nicht daran, dass Frauen diesen Beruf aus Spaß wählen, sondern dass die meisten aufgrund ihrer Sucht oder Ähnlichem dazu gezwungen sind.» Sie blickt mich eine Weile schweigend an, dann blitzen ihre Augen auf, und das Grübchen am Kinn vertieft sich wieder, auch wenn sie nicht lächelt.
«Du bist ein guter Mensch, Magni.» Ich weiß nicht, wie ich diese Bemerkung auffassen soll, also entgegne ich nichts, sondern lächele nur, während mir das Blut ins Gesicht schießt und ich knallrot anlaufe. Das ist lächerlich, aber es ist mir egal, ob sie es merkt, ich bin nur froh, dass sie sich nicht von mir gedemütigt fühlt oder denkt, ich würde wegen ihrer Vergangenheit auf sie herabschauen.
Es ist schon nach Mitternacht. Nachdem ich Fríða bis zu ihrer Haustür begleitet habe, gehe ich den Hügel hinauf nach Hause und denke an die Umarmung zum Abschied und an ihren heißen Kuss auf meine Wange. Wir haben unsere Lebensgeschichten und Telefonnummern ausgetauscht. In der Wohnung falle ich über den Beutel mit dem Schwimmzeug und betrachte mit müdem Widerwillen den Geschirrstapel in der Spüle. Ich habe jetzt nicht die Energie, angetrocknete Essensreste von den Tellern und Töpfen zu kratzen. Ich krieche mit meiner AA -Lektüre ins Bett, aber kann mich nicht auf die Botschaft konzentrieren. Es pocht immer noch in der Wange, wo Fríða mich geküsst hat, und jeglicher politischer Korrektheit zum Trotz lasse ich meiner Phantasie freien Lauf und stelle mir Fríða vor, wie sie mit lasziven Bewegungen an der goldenen Stange langsam ihre Hüllen fallen lässt.
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