Zwoelf Schritte
Nachdem sich die beiden offensichtlich kennen und etwas miteinander zu besprechen haben, verabschiede ich mich von ihnen und denke bei mir, dass es dem Dicken nicht schaden kann, dass ihm ein ehemaliger Pfarrer beim Beichten zuhört.
Am Imbiss Hlölli kaufe ich mir ein halbes Baguette mit Roastbeef, Remoulade und gebratenen Zwiebeln, setze mich auf einen der schmalen Hocker am Fenster und stopfe es hastig in mich hinein. Ich trinke eine Cola dazu. Auf dem Ingólfsplatz trainieren die Kids mit ihren Skateboards, denn unter dem Pflaster ist Bodenheizung, und deshalb sind keine Eis- und Schneereste auf der Freifläche. Ich fühle mich gut, als ich die Hverfisgata zum Meeting der gläubigen Gruppe hocheile. Es ist offensichtlich gut besucht, denn die Schlange der Wartenden reicht bis auf die Straße hinaus. Drinnen schaue ich mich um, aber gerade als ich am anderen Ende des Saals Fríða ausmache und ihr zuwinken will, entdecke ich Njörður, der wie ein Troll in der Menge thront.
«Ich habe keine Ahnung, was ich hier eigentlich soll, ich kann Säufer und Junkies nicht ertragen», sagt er statt einer Begrüßung.
«Du bist hier genau richtig, denn hier setzen sich die Leute mit ihrer Arroganz und Verbitterung auseinander.» Ich lasse ihn stehen und gehe weiter in den Saal hinein auf der Suche nach Fríða. In mir brodelt Wut, ich frage mich, ob Njörður auf eigene Initiative hier ist oder ob Iðunn davon gewusst, mir aber nichts gesagt hat.
«Schön, dich zu sehen!», sagt Fríða, als ich mich zu ihr setze.
«Gleichfalls.» Ich lächele ihr zu. «Geht’s dir gut?», frage ich, um überhaupt etwas zu sagen, während ich mir erlaube, sie einen Augenblick länger als nötig anzuschauen. Sie ist auf typisch isländische Art attraktiv. Blonde Locken umrahmen das breite Gesicht, das Kinn ist kräftig und kantig, die Nase gerade. Ihre hohen Wangenknochen betonen die Mandelform der Augen. Sie trägt ein enges T-Shirt mit einem Dekolleté bis zum Busenansatz, enge Jeans und derbe Wanderschuhe. Ich weiß nicht, ob es der Ärger auf Iðunn ist, aber ich ertappe mich dabei, wie ich ständig auf ihren Mund schaue. Ihre Lippen sind voll und sinnlich, und durch meinen Kopf strömen träumerische Gedanken, wie es wäre, diese Lippen wieder und wieder zu küssen. Zum Glück fängt das Meeting an, bevor das Blut ernsthaft in meinen Ohren zu rauschen beginnt, und ich richte meine Aufmerksamkeit auf den Redner. Dieses Meeting wird wesentlich besser geleitet als das vorherige, aber ich kann mich nicht hundertprozentig auf das Gesagte konzentrieren, um wie sonst so oft meine Nerven zu beruhigen. Fríðas Atemzüge neben mir, ihr heißer Oberarm dicht an meinem und der trollartige Kopf von Njörður, der am anderen Ende des Saals versucht, sich auf seinem Sitz klein zu machen, irritieren mich, und ich halte ständig in der Versammlung nach dem Gesicht eines Mörders Ausschau. Als ob sich jederzeit jemand durch seine Hinterhältigkeit oder seinen gehetzten Blick verraten könnte. Ich fühle mich unwohl und habe Schwierigkeiten, still zu sitzen. Es wird auf jemanden in der Mitte des Saals gezeigt, und Geir steht auf und betritt die Rednerbühne. Ich freue mich darüber, obwohl ich von Schuldgefühlen erfasst werde, weil ich noch nicht mit dem fünften Schritt fertig bin. Nach seinem Plan müssten wir schon mit dem sechsten angefangen haben. Geir spricht über den ersten Schritt und wie man ihn auf die anderen Schritte übertragen kann. Alle Schritte sind leichter mit Gottes Hilfe als mit dem fragilen Willen eines Alkoholikers zu meistern. Er ist unübersehbar der Star des Meetings, denn während er spricht, ist es totenstill im Saal, und niemand geht zum Kaffeetisch. Mir fällt auf, dass er als Einziger nicht von seinen eigenen Erfahrungen berichtet, um seine Aussagen zu untermauern. Aber er ist natürlich schon lange dabei, dass er sich nicht mehr, so wie wir, ständig mit sich selbst auseinandersetzen muss. Als er fertig ist, zeigt er in den Saal, und mein Bruder Egill steht auf und geht ans Rednerpult. Als er und Geir sich auf halbem Weg begegnen, klatschen sie sich ab, und ich spüre eine altbekannte Eifersucht, wie früher, als mein Vater mit Egill zum Fußballtraining ging, aber nicht zur Vorführung meines Schultheaters kam. Dieses Gefühl weicht Verblüffung und ein wenig Furcht, als Egill zu reden anfängt.
Er ist aufgewühlt, plappert wirres Zeug und wiederholt dieselben Sätzen immer wieder. Mein erster Gedanke ist,
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