Zwoelf Schritte
Männer können manchmal sehr merkwürdig sein.
«Wir brauchen dich sofort unten im Präsidium!» Iðunns Stimme klingt aufgeregt, sie steht offensichtlich unter Zeitdruck.
«Was ist denn los?» Schlaftrunken strecke ich mich nach der Uhr auf dem Tisch. Es ist Viertel vor zehn.
«Noch eine Leiche, gestern Abend, sie hat uns die ganze Nacht auf Trab gehalten, und jetzt sind einige AA -Leute auf dem Weg zu uns, die mit uns reden wollen. Sie haben sich für halb elf angekündigt. Ich schicke einen Wagen zu dir.» Mir liegt eine gehässige Bemerkung auf der Zunge, dass Njörður meine Pflichten übernommen hat, aber ich meine, Angst aus ihrer Stimme herauszuhören, und lasse es gut sein. Ich wälze mich aus dem Bett und klatsche mir kaltes Wasser ins Gesicht, rasiere und kämme mich, ziehe T-Shirt und Anzug an und wische mit einem Handtuch den gröbsten Staub von den guten Schuhen. Ich betrachte mich im Spiegel und finde, dass ich wesentlich besser aussehe als gestern. Vielleicht wirken sich der Kuss und die Umarmung einer schönen Frau in der letzten Nacht und der Notruf heute Morgen positiv aus. Ich bin attraktiv, und man braucht mich. Als es hupt, laufe ich die Treppe hinunter. Vor der Tür wartet ein Polizeiauto mit Blaulicht. Ich hatte ein Taxi erwartet. Die Polizisten beantworten meinen Gruß, aber sagen nichts weiter, sondern konzentrieren sich auf den Verkehr. Vor dem Präsidium bedanke ich mich und gehe in das Gebäude. Iðunn kommt mir im Flur entgegen und sagt ohne Gruß:
«Sie sind schon da. Sie sitzen im Vernehmungszimmer und trinken Kaffee. Es wäre gut, wenn du in das Gespräch einfließen lassen könntest, dass du trockener Alkoholiker und AA -Mann bist. Es ist wichtig, ihnen zu vermitteln, dass wir verstehen, dass sie beunruhigt sind. Njörður und ich versuchen dann, ihnen zu entlocken, wie sich der letzte Mord herumgesprochen hat. Wir haben noch nicht einmal eine Bekanntmachung herausgegeben.»
«Der jüngste Mord wurde gestern entdeckt?», frage ich.
«Ja. Als der Hausmeister der Uniklinik gestern Abend die Krankenhauskapelle schließen wollte, fand er die Leiche auf den Knien liegend auf dem Boden. Er dachte zuerst, der Mann würde beten, und sprach ihn an, aber ohne Erfolg, und dann dachte er, es sei ein Patient, der beim Beten einen Herzanfall erlitten habe. Als er den Puls fühlte, merkte er, dass der Mann eiskalt war.»
«Dann hat er also schon länger dort gelegen?»
«Nein, denn am Nachmittag hat eine Taufe in der Kapelle stattgefunden, und nach Aussagen der Patienten der umliegenden Stationen haben bis in den Abend hinein Leute die Kapelle aufgesucht. Im Krankenhaus ist ab zehn Uhr Nachtruhe, aber manche Patienten schleichen auch danach noch durch die Gänge. Es sieht so aus, als ob die Leiche erst kurz vor ihrem Auffinden dorthin geschafft worden wäre.»
«Gibt es denn in der Klinik keine Überwachungskameras, auf denen man sehen kann, wie jemand mit einer Leiche durch die Gänge geistert?»
«Tja, so einfach ist das leider nicht. Ein Krankenhaus ist im Prinzip ein Ort, an dem man mit einer Leiche nicht auffällt. Es ist nichts Besonderes an einem weißgekleideten Mann, der ein Krankenbett durch die Flure schiebt. An allen Eingängen befinden sich Kameras, aber auf den Aufzeichnungen ist nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Und unglücklicherweise ist die Kamera, die auf die Krankenhauskapelle gerichtet ist, seit einigen Wochen kaputt.»
«Und ich brauche wohl nicht extra zu fragen, ob das Opfer AA -Mitglied gewesen ist?»
«Nein, brauchst du nicht. Aber uns interessiert, wie es die Männer im Vernehmungsraum wissen konnten.»
Im Vernehmungsraum riecht es nach einem Gemisch aus Rasierwasser, frischgebrühtem Kaffee und altem Stress, der nach zahllosen Verhören in diesem Raum in den Wänden zu hängen scheint. Die beiden Männer stehen am Fenster, als wir hereinkommen, und reichen uns nacheinander die Hand. Iðunn stellt Njörður als ihren Kollegen und mich als Berater in dieser Angelegenheit vor. Wir setzen uns an den Tisch, die beiden auf der einen Seite, Iðunn und Njörður ihnen gegenüber und ich am Kopfende. Sie sind beide geschmackvoll gekleidet; der Ältere im Anzug mit Hemd und Krawatte, der Jüngere in schicken Hosen mit Rollkragenpulli und einer zugeknöpften Strickjacke darüber. Es kann nicht länger als eine Woche her sein, dass sie zuletzt beim Friseur waren. An ihren Ringfingern leuchten Eheringe, und sie strahlen beide diese Selbstgewissheit und Ruhe
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