Zwoelf Schritte
Allerdings wundere ich mich über den Fundort, denn ungefähr drei Wochen vor seinem Tod hatte ich ihm zusammen mit Egill geholfen, seine Siebensachen und einige Möbel, die er auf dem Flohmarkt im Kolaportið gekauft hatte, in seine neue gemietete Wohnung zu schaffen – auf der anderen Seite der Straße, die an Miklatún vorbeiführt.
«Warum, glaubst du, soll er sich dort unter den Busch gelegt haben, wenn er direkt gegenüber wohnte, nur wenige Schritte von diesem Busch entfernt?», frage ich Iðunn.
«Da hast du recht.» Iðunn nimmt den Bericht und blättert darin. «In seinen Hosentaschen waren sein Wohnungsschlüssel, gut achttausend Kronen, das AA -Programm und sein Handy, mit dem die letzten vierundzwanzig Stunden vor seinem Tod weder ein Anruf getätigt noch entgegengenommen worden ist», zählt sie auf und reicht mir den Bericht wieder.
«Er hat sich also nicht ausgeschlossen.»
«Er war so betrunken, dass er nicht wusste, wo er war», antwortet sie. Das klingt plausibel für mich. Ich studiere noch einmal das erste Bild, auf dem der Polizist die Zweige zur Seite geschoben hat und sich Aðalsteinns Körper um eine halbleere Flasche Whisky krümmt. Das Johnnie-Walker-Etikett ist verschwommen zu erkennen, ich habe selbst eine Weile diesen Whisky häufig getrunken. Der junge Mann liegt auf der Seite, das zerzauste aschfarbene Haar klebt im Gesicht, und beide Hände umklammern die Flasche. Ich denke an seine selbstsichere, oft niederträchtige Art und frage mich, ob er dieses Schicksal gefürchtet hat.
«Die Profilerin trifft sich mit uns um eins. Ich hätte gern, dass du auch dabei bist», sagt Iðunn. «So wie ich sie kenne, wird sie alle unsere Vermutungen, wie die Verbindung zu den AA , sammeln wollen.»
«Hat Njörður nicht meine Pflichten übernommen?», frage ich, während der Ärger von gestern Abend wieder zu rumoren beginnt.
«Ach, Magni», stöhnt sie, wie wenn sie mit einem Teenager reden würde, «gimme a break.»
Als ich die Müdigkeit in ihrer Stimme höre, tut es mir schon wieder leid, und mir fällt ein, dass sie die ganze Nacht auf den Beinen war.
«Sollen wir nicht irgendwo hier in der Nähe etwas zusammen essen?», schlage ich als Wiedergutmachung vor, aber sie packt die Unterlagen auf dem Tisch zusammen und sagt, dass sie mittags schon eine Sitzung habe und sich noch auf Madam Klaps vorbereiten müsse.
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Siebentes Kapitel Mängel
Ich sitze draußen im Gang des Kommissariats auf einem Stuhl am Fenster, wo mich die kalte Wintersonne in diese speziell isländische blaue Helligkeit taucht, und verschlinge ein heißes Sandwich vom Kiosk mit Käse und Schinken. Es schmeckt eigentlich nach nichts, aber ich bin trotzdem dankbar, denn es ist anstrengend, immer nur vom Hunger angetrieben zu werden. Ich hätte Curry und Pfeffer an dieses Sandwich getan und auch etwas Saures, vielleicht Zwiebeln. Dann wäre es perfekt gewesen. Als ich über das Abendessen nachdenke, fällt mir ein, dass die Küche im Chaos versinkt und ich schon eine ganze Weile nicht mehr eingekauft habe. Es ist, als ob sich die Bedeutung einer ordentlichen Wohnung wenige Tage nach meiner Rückkehr aus dem Entzug verflüchtigt hat und ich wieder in Ratlosigkeit gegenüber meiner Umwelt verfalle, außer dass ich jetzt nicht betrunken bin und es mir auffällt, wie es um mich herum aussieht. Ich esse das Sandwich auf und fühle mich immer noch hungrig, ziehe die Schokolade aus der Tasche, die ich für später aufheben wollte, und stopfe sie ebenfalls in mich hinein. Nun fehlt nur noch Kaffee, und ich gehe ans andere Ende des Flurs, wo die Kaffeemaschine steht, und drücke auf den Knopf für einen Caffè Latte. Die Maschine geizt mit dem Kaffee, die Portion reicht kaum für einen halben Becher, sodass ich noch einmal auf den Knopf drücke. Aber da füllt sich der Becher bis zum Rand, und ich muss mich zu ihm hinunterbeugen und etwas abschlürfen, bevor ich ihn anheben kann.
«Where is everyone?!» Ich erschrecke und verschütte Kaffee auf meine Hand, was eher unangenehm ist. Eine große Frau wackelt den Flur entlang und schreit in stark amerikanisch gefärbtem Englisch, dass die Sitzung anfange und alle Idioten seien, die ihr die Zeit stehlen. Sie geht in das größere Sitzungszimmer und fängt wieder an zu rufen.
«Are you the profiler?», flüstere ich durch die Tür in ihre Richtung.
«I am indeed», erwidert sie froh, schlägt die Hacken zusammen und salutiert nach Soldatenart. «Das schätze
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