Zwoelf Schritte
an, aber die Tussi schneidet ihr das Wort ab:
«Gibt es irgendwelche höheren Prioritäten bei der isländischen Polizei als ein freilaufender Serienmörder?» Es herrscht immer noch Schweigen, bis Iðunn fragt, ob sie glaube, dass es sich um denselben Täter handele. Ihr Gesicht ist von gräulicher Farbe, und sie hat weiße Lippen.
«Daran besteht meiner Ansicht nach kein Zweifel», antwortet Megan und beginnt, die Fotos aus den Mappen in die Vierecke an der Wand zu kleben. In das erste kommt das Bild von Jón Ágúst am Kreuz, in das nächste das Foto vom nackten Bjarni Jóhannes in der Badewanne und in das letzte Viereck klebt sie das Bild von Kristján mit dem Gesicht nach unten unter dem Kreuz in der Krankenhauskapelle. Neben die Bilder klebt sie jeweils die Berichte von der Obduktion und vom Tatort.
«Es geht hier im Grunde um Kontrolle», sagt sie und dreht sich zur Gruppe um. «Alle Leichen sind auf eine bestimmte Weise in Szene gesetzt, entweder um eine Botschaft an die zu übermitteln, die sie finden, oder um die Bedürfnisse des Mörders nach einem gewissen Resultat zu befriedigen, so als ob er den Opfern eine Lehre erteilen wollte. Beides hat mit dem Ausüben von Kontrolle zu tun.»
Die versammelte Mannschaft starrt auf die Bilder an der Wand, und mir scheint, dass wir alle die Leichen auf den Fotos mit anderen Augen betrachten, als seien sie Codes, die wir erst jetzt entschlüsseln können.
«Ich sehe darin einen starken religiösen Bezug», fährt Megan fort, während wir immer noch auf die Bilder starren.
«Was für einen religiösen Bezug siehst du bei Bjarni Jóhannes?», fragt Iðunn. Alle nicken und haben offensichtlich dasselbe gedacht.
«Könnte eine Wassertaufe sein, ein Symbol der Geburt, Sündenvergebung oder etwas anderes. Wasser kann im Christentum unzählig viele Bedeutungen haben. Zwei der Ermordeten waren im strengsten Sinne der evangelischen Kirche Sünder: Jón Ágúst war schwul, und Bjarni Jóhannes war ein Mörder. Ihr müsst herausfinden, was für eine große Sünde Kristján mit sich herumschleppte.» Iðunn nickt Megan zustimmend zu und zeigt auf zwei Polizisten, die ebenfalls nicken und sich eine Notiz machen. Wenn die Umstände nicht so ernst wären, wäre dieser wortlose Austausch zwischen den Polizeibeamten todkomisch, die es kaum wagen, sich zu rühren, aus Furcht und Respekt vor dieser Frau, über die im Fernsehen alle lachen würden. Sie spricht amerikanisch, aber wenn sie isländische Namen ausspricht, ist ein starker norwegischer Akzent zu hören, und ich frage mich, warum sie nicht einfach norwegisch spricht.
«Wir wissen über den Mörder, dass er ein Mann ist, und zwar mittleren Alters, denn er hat ein ausgereiftes Tötungsmuster, wenn man so sagen will, das sind keine jugendlichen Spielchen, sondern durchdachte Inszenierungen. Trotzdem ist er nicht zu alt und in guter Form, denn es bedarf eines kräftigen Mannes, sowohl um das Holzkreuz hochzuziehen, als auch um Kristjáns Leiche in die Krankenhauskapelle zu schaffen. Und noch etwas wissen wir, nämlich dass er ein Lügner ist.»
«Gläubiger Mann mittleren Alters in guter körperlicher Verfassung», zählt Iðunn von ihrer Liste auf und macht ein fragendes Gesicht, das Megan nicht zu bemerken scheint, sodass ich die Frage stelle, die allen auf der Zunge liegt.
«Was meinst du damit, dass er Lügner ist?»
«Er inszeniert die Opfer, als ob er eine Geschichte erzählen würde. Nehmen wir an, dass ein Teil der Geschichten, die er die Leichen erzählen lässt, wahr ist. Der Tod von Bjarni Jóhannes ist zum Beispiel die Nachbildung des Mordes, den er selbst begangen hat. Aber Serienmörder haben in den seltensten Fällen die gleiche Auffassung von Wahrheit wie andere, und deshalb ist seine Einschätzung der Opfer vermutlich das, was wir übertrieben oder auch falsch nennen würden. Sehr wahrscheinlich unterscheidet er ebenso wenig wie andere Psychopathen zwischen Wahrheit und Lüge, sodass er Menschen sehr überzeugend etwas vorzugaukeln vermag.»
Iðunn reicht Megan die vierte Mappe mit Aðalsteinns Namen vornedrauf mit den Worten, dass dies möglicherweise noch ein Opfer desselben Mörders sei, worüber man aber geteilter Meinung sei, und Njörður nickt.
«Aha.» Megan nimmt die Mappe entgegen und inspiziert die Unterlagen. Abermals herrscht Totenstille. Die Polizisten wagen kaum zu atmen, und auch ich bin diesmal schlau genug, den Mund zu halten. Sie scheint die Mappe auf ähnliche Weise wie vorher
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