Zwoelf Schritte
Gesichtsausdruck.
«Kannst du bitte zusammenfassen, was wir bereits über den Mörder wissen», sagt Iðunn. Immer praktisch, immer bereit, ihr eigenes Ego zurückzunehmen, um die Fälle zu lösen. Das kann man von Njörður nicht behaupten, der sichtlich Probleme hat, die Tatsache zu schlucken, dass nicht er einen Lösungsansatz für den Fall gefunden hat.
«Es handelt sich um einen gläubigen Mann mittleren Alters in guter körperlicher Verfassung, der sich seine Opfer innerhalb der Anonymen Alkoholiker sucht», beginnt Megan. «Inzwischen wissen wir», fährt sie fort, «dass er Mitglied bei den AA ist, und zwar vermutlich ein sehr aktives Mitglied, das die Ideologie dahinter wörtlich nimmt – so wörtlich, dass er Leute umbringt, die sich nicht von den Schritten leiten lassen. Wie er weiß, wer mit den Schritten gut oder weniger gut zurechtkommt, ist noch ein Rätsel, aber entweder sucht er sich die Opfer auf den Meetings aus, wo er sie hat reden hören, oder er ist ihr Vertrauensmann.»
«Wir haben ein Team losgeschickt, das sich im engsten Kreis der Opfer nach ihren Vertrauensleuten erkundigen soll, und wollen nach dieser Sitzung auch noch Verstärkung schicken», informiert Iðunn uns, und Njörður nickt säuerlich.
«Gut», sagt Megan. Abschließend möchte sie das Gedächtnis der Anwesenden zum Thema Serienmorde und Serientäter noch ein wenig auffrischen. Die gesamte Gruppe nickt dankbar. Ich halte es nicht für wahrscheinlich, dass isländische Polizisten jemals etwas über Serienmörder gelernt haben.
«Als Serienmörder gilt, wer mindestens drei Menschen umgebracht hat. Häufig sind es weitaus mehr, und manchmal tötet er in Schüben, zwischen denen er Ruhephasen einlegt und unauffällig ist. Meist kennt der Mörder seine Opfer nicht oder hat höchstens mal ein Wort mit ihnen gewechselt. Oft wirken die Morde auf den ersten Blick sehr unterschiedlich und scheinen keine Verbindung aufzuweisen, aber die Opfer haben manchmal eine symbolische Bedeutung für den Mörder, und die Morde spiegeln diese Bedeutung wider. Manchmal führt diese Symbolik dazu, dass man, wie in unserem Fall, verschiedene Morde in Zusammenhang bringen kann. Es gibt in der Regel keinen weltlichen Grund für solche Morde, Serienmörder töten in den seltensten Fällen für Geld oder sonstige Vorteile, vielmehr stecken psychologische Gründe dahinter. Sadismus gehört eigentlich fast immer dazu. Serienmörder haben ein großes Bedürfnis, ihre Opfer zu beherrschen, und wählen sie meist im Hinblick darauf aus, dass sie eine leichte Beute darstellen.» Megan hört einen Augenblick zu sprechen auf, um aus ihrem Kaffeebecher zu trinken, und währenddessen ist es mucksmäuschenstill. Ich habe das undeutliche Gefühl, dass die Mitglieder des Teams ihre Machtlosigkeit gegenüber dieser Aufgabe spüren. Die meisten hier haben es normalerweise mit Eifersuchtsmorden im Suff oder versehentlich abgegebenen Schüssen bei der Schneehuhnjagd zu tun.
«Viele Serientäter hatten eine schwierige Kindheit und sind mit Gewalt oder Vernachlässigung aufgewachsen, aber das trifft nicht auf alle zu. Den meisten ist jedoch gemein, dass sie als Kinder oder Jugendliche Bettnässer, Brandstifter und Tierquäler waren. Diese drei Merkmale solltet ihr im Kopf haben, wenn ihr euch über Kindheit und Jugend eines Verdächtigen informiert. Die meisten Serientäter fasziniert die Polizei und ihre Arbeit, was sich zum Beispiel darin äußert, dass sie dementsprechend den Tatort gestalten oder das Opfer in Szene setzen.»
Nach dem Vortrag von Megan ruft mich Iðunn auf dem Flur zu sich. Sie zieht mich in eine Ecke und raunt mir zu:
«Njörður hat einige Leute zu deinem Bruder Egill geschickt, um mit ihm zu reden.»
«Was meinst du damit, um mit ihm zu reden?»
«Na ja, Njörður fand ihn irgendwie verdächtig auf zwei Meetings, auf denen er sprach, und beschloss, ihn sich ein bisschen vorzuknöpfen.» Wir schauen uns an, und ich weiß nicht, was ich sagen soll.
«Iðunn, das ist verrückt! Ich … du weißt genauso gut wie ich, dass Egill keiner Fliege etwas zuleide tun kann.»
«Ich weiß, und ich habe es auch zu Njörður gesagt, aber das Einzige, was wir jetzt tun können, ist zu versuchen, so viele wie möglich auszuschließen, je mehr, desto besser.»
«Und, ist es ihnen gelungen, ihn durch dieses Gespräch auszuschließen?», frage ich und spüre, wie mich die Frage innerlich aufwühlt. Für meinen kleinen Bruder hatte ich immer eine Schwäche,
Weitere Kostenlose Bücher