Zwoelf Schritte
durch eine Kameralinse schaut, die nicht scharfgestellt ist.
«Nimm dich vor ihm in Acht», rufe ich dem Mann zu, «er hat eine Neigung, seine Liebhaber zu verdreschen. Du solltest es dir noch einmal gut überlegen, bevor du mit zu ihm nach Hause gehst.» Plötzlich fühlt es sich so an, als ob ich ein Stück vom Boden abheben würde, und Atlis Griff um den Mantelkragen drückt mir die Luft ab.
«Pass auf, was du über mich sagst, du verfluchter Idiot!», zischt er, nur Millimeter von meinem Gesicht entfernt, durch die Zähne, bevor er mich von sich schleudert. Ich kann das Gleichgewicht nicht halten, falle auf den Hintern und habe Schwierigkeiten, wieder auf die Füße zu kommen. Einer der Bargäste reicht mir seine Hand und bringt mich wieder in die Senkrechte, aber ich halte mich sicherheitshalber erst einmal an der Straßenlaterne fest. Ich brauche eine Weile, um mich wieder zu orientieren, aber dann sehe ich Atli und den Mann den Laugavegur Richtung Innenstadt entlanglaufen. Trotz meines Rauschs bin ich erschrocken über die Heftigkeit und das Gefühl, in den Händen dieses starken Mannes ein Nichts gewesen zu sein. Ich klammere mich an die Laterne. Jemand reicht mir ein Bier, von dem ich gierig trinke, während ich vor mich hin plappere, dass Atli Eyjólfsson bestimmt der Mörder ist. Dann werde ich auf einmal abgelenkt, als ein frohes Raunen durch die Menge an der Bartür geht: «Party, Party», flüstert jemand, und die Adresse gleich dazu. Das Losungswort aller, die noch nicht nach Hause wollen, obwohl die weltliche Obrigkeit bestimmt hat, dass es genug ist.
Später in der Nacht stehe ich wieder vor Fríðas Tür und klingele Sturm und rufe ihren Namen in der Hoffnung, dass sie aufwacht und mich hineinlässt. Es ist immer noch Licht in ihrer Wohnung, aber sie reagiert nicht. Sie wird inzwischen kaum heimgekommen sein, wenn immer noch Licht brennt, sie muss beim Weggehen vergessen haben, es auszuschalten. Vielleicht hat das aber auch sein Gutes, denn ich bin betrunken, und sie will mich sicher so nicht sehen. Ich setze mich auf die Treppe vor ihrer Wohnung, lehne den Kopf an die Tür, flüstere ein paarmal ihren Namen und nicke ein. Eine Weile später schrecke ich hoch, als sich die Tür öffnet und ich rückwärts in das Treppenhaus kippe. Ein Mann steigt über mich hinweg und sagt:
«Du darfst hier nicht schlafen, mein Freund.»
«Ich wollte nur zu Fríða.» Ich rappele mich hoch. Ich muss eine ganze Weile geschlafen haben, denn ich bin schon wieder ziemlich nüchtern und sicherer auf den Beinen. Was für eine absurde Idee, besoffen bei Fríða vorbeizuschauen. Völlig steif vor Kälte mache ich mich auf den Weg nach Hause. Meine Glieder tun mir weh, und ein altbekannter Kopfschmerz überfällt mich.
Kaum bin ich aufgewacht, wird der Gedanke an ein eisgekühltes Bier so übermächtig, dass ich ungeachtet des Schwindels, der Übelkeit und des beinahe unerträglichen Kopfschmerzes aufstehe. Trinken, um den Kater zu bekämpfen, ist eines der Hauptsymptome des Alkoholismus, aber meine Argumentation geht so: Entweder liege ich den ganzen Tag wie ein Elender schlotternd vor Entzugserscheinungen und Gewissensbissen im Bett, oder ich zwinge mich aufzustehen und bringe mich mit einem Schluck wieder ins Lot. Ich überlebe die heiße Dusche, ziehe mir etwas an und bin kurz darauf auf dem Weg in die Stadt. Die Luft ist frostig und mein Haar nass, und ein kalter Wind bläst mir ins Gesicht. Die Kälte ist erfrischend, und ich bin nicht mehr so schlapp wie vorhin. In der Bäckerei hole ich mir ein belegtes Brötchen, das ich auf dem Weg hinunter in den Alkoholmonopolladen esse. Ich habe einen tierischen Kater und kaufe Bier und dänischen Schnaps in kleinen grünen Flaschen, den ich auf dem Rückweg den Laugavegur hoch in mich hineinschütte. Ich gehe an der Bar vorbei, wo ich Atli letzte Nacht getroffen habe, und spüre einen kleinen Stich im Magen angesichts meines Verhaltens ihm gegenüber. Aber wahrscheinlich hat er es nicht anders verdient, der Teufel, diese Drohgebärden sehen ihm ähnlich. Was denken sich die Leute dabei, im Fitnesscenter endlos Gewichte zu stemmen? Machen sie das nur, um mit ihren Muskeln ihre Überlegenheit zu demonstrieren? So dreht sich mein Gedankenkarussell, bis ich eine Rechtfertigung für mein Verhalten von gestern Nacht gefunden habe, für meine Frage, ob er, Atli, ein Mörder sei, und für die Warnung gegenüber seinem Begleiter, die letztendlich auf einer Jahre
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