Zwoelf Schritte
an Sexsucht gelitten habe. Sofort kriege ich Schuldgefühle. Vielleicht gilt die Schweigepflicht bei den AA auch über den Tod hinaus. Gleichzeitig tröste ich mich damit, dass auch die Polizei an die Schweigepflicht gebunden ist und die Anonymen Alkoholiker das größte Interesse daran haben, dass dieser Mörder gefasst wird, bevor er noch mehr Leute umbringt.
«Das ist wahrscheinlich der Punkt», bestätigt Megan und fügt hinzu, dass die Sachen auf dem Tisch zweifellos Symbole dafür sind, was im Leben dieses Mannes schiefgelaufen ist.
«Er wäre sicherlich nicht in dieser körperlichen Verfassung, wenn er nicht zu viel gegessen hätte», sagt Iðunn. «Dieser riesige Stapel von Pizzakartons wäre dann ein Symbol dafür.»
«Du sagst Sexsucht, das erklärt den Pornostreifen», ergänzt Megan. «Seine Finanzen liegen offenbar im Argen, und ich wette, dass die Beziehung zu den Personen auf den Bildern, vermutlich seine Familie, nicht gut gewesen ist.»
«Der Mörder muss ihn also gut gekannt haben», sagt Iðunn und betrachtet über den Schreibblock hinweg die Leiche.
«Oder mit ihm auf den Meetings gewesen sein», sage ich.
Megan hebt den Pizzakartonstapel vom Tisch und stellt ihn auf den Boden neben sich. «Und dann das hier.» Sie hält eine lange Perlenkette hoch, die auf dem Tisch unter den Kartons gelegen hat. Sie sieht aus wie ein Rosenkranz, an dem ein goldfarbenes Kreuz hängt.
[zur Inhaltsübersicht]
Achtes Kapitel Missetaten
Im Polizeipräsidium sinken Megan und ich im Sitzungsraum auf die Stühle, während die anderen beschäftigt sind. Sie nimmt das Gebäck aus der Tüte von der Bäckerei, an der wir auf dem Weg anhielten, aber entgegen meiner Gewohnheit habe ich keinen Appetit. Das Gesicht des Mannes auf dem Sofa und die Symbole überall, die mit den traurigen Umständen seines Lebens verknüpft sind, haben mich stark mitgenommen. Eine junge Polizistin kommt herein und reicht Megan ein Blatt Papier, das sie liest, während sie einen halben Kopenhagener verspeist. Sie isst bestimmt oft Kuchen zu Mittag. Ich gehe auf den Flur und hole mir einen Schluck Wasser. Als ich zurückkomme, sagt Megan:
«Die vermutete Todesursache ist die Lähmung der Atemwege aufgrund einer Überdosis Morphium. Die Todeszeit liegt zwischen sieben Uhr abends und sieben Uhr morgens, der Arzt tippt auf Mitternacht, da die ‹rigor mortis› bei der Untersuchung voll entwickelt war.»
«Rigor was?»
«… mortis, die Leichenstarre. Du weißt, dass sie nach etwa drei, vier Stunden einsetzt und nach zwölf Stunden alle Gelenke steif sind. Nach drei Tagen lässt sie wieder nach. Die Mitarbeiter im Leichenhaus werden ihre Freude daran haben, unseren Freund in sitzender Stellung zu manövrieren, so korpulent wie er ist.»
«Ja, das mit der Starre wusste ich, aber ich kannte nicht den lateinischen Ausdruck», antworte ich und spüre, wie mir das Blut ins Gesicht schießt. Mir brennen die Augen bei dem Gedanken an die Vorkehrungen, die nötig sind, um den armen Kerl zu transportieren. «Ich habe den Eindruck, dass er seine Opfer demütigt.» Megan nickt mir zustimmend zu.
«Das denke ich auch», sagt sie. «Solche Mörder wählen sich ihre Opfer häufig symbolisch aus, und vielleicht steht das Opfer für etwas, das er verachtet. Solche Mörder verachten nicht grundsätzlich alle Menschen oder fühlen sich über alle erhaben.» Sie dreht sich um und starrt nachdenklich auf die Wand mit den Fotos. Ich tue es ihr nach. Wie viele Fotos wohl noch dazukommen, bevor es vorbei ist?
«Wann kommt dieser AA -Fritze?», fragt Megan auf einmal, und ich taste nach meinen Handy in der Hosentasche, bis mir wieder einfällt, dass es weg ist. Ich kann vorne am Empfang das Telefon benutzen.
«Habe mein Handy verloren», sage ich entschuldigend zu dem Mädchen hinter der Theke, und sie lächelt mitleidsvoll.
«Die Schritte sind die spirituelle Basis der Anonymen Alkoholiker», ist das Erste, was Geir sagt, als ihn Megan bittet, ihr kurz von der Organisation zu berichten. «Sie wurden in den dreißiger Jahren gegründet, nachdem schon eine Unzahl von Vereinigungen, wie die Guttempler, die Heilsarmee und der Washington-Verband, daran gescheitert ist, das Alkoholproblem in den Griff zu kriegen. Als die AA gegründet wurden, übernahmen sie ein Programm, das schon die Oxford-Gruppe zur Psychohygiene benutzt hatte und das darauf hinausläuft, einem anderen Christenmenschen gegenüber seine Sünden und Versuchungen zu bekennen und damit sein
Weitere Kostenlose Bücher