Zwoelf Schritte
gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind – und unser Leben nicht mehr meistern konnten.»
Während sie spricht, blicke ich zu dem Foto von Aðalsteinn, wie er zusammengekrümmt unter einem Busch liegt, und mein Herz macht einen Sprung.
«Mein Bruder, der Aðalsteinn gut kannte, sagte, dass er es nie geschafft habe, seine Machtlosigkeit gegenüber dem Alkohol zuzugeben. Dass er immer gedacht habe, aus eigener Kraft die Kontrolle über das Trinken erlangen zu können.»
«Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann»
, liest Megan von der Homepage vor und dreht sich zur Wand um.
«Jón Ágúst Karlsson», sagen wir wie aus einem Mund und blicken auf die Kreuzigung. Das Symbol des Glaubens, hat der Pfarrer gesagt, und Jón Ágúst war Atheist. Megan dreht sich um, liest weiter und sagt dann:
«Wir haben nichts, was zum dritten und vierten Schritt passt.» Sie starrt auf die Fotos und fügt hinzu: «Noch nicht.» Dann erhebt sie sich und reißt alle Fotos der Opfer und die dazugehörigen Berichte, die sie so sorgfältig in die Vierecke geklebt hat, herunter und wirft sie in einem Haufen auf den Tisch. Wieder zieht sie ihren Marker heraus und malt eine noch viel gewaltigere Reihe von Vierecken an die Längswand, insgesamt zwölf.
«Kann ich dir helfen?», frage ich behutsam, um sie nicht bei diesem verblüffenden Treiben zu stören. Ich weiß, was sie macht, aber muss mich trotzdem darüber wundern, dass diese Frau direkt auf die Wand zeichnet, anstatt Kreppband oder dergleichen zu benutzen, um die Felder abzugrenzen.
«Ja, du kannst die Schritte auf Isländisch und Englisch über jedes Feld schreiben», sagt sie.
«Bist du sicher, dass das das Muster ist?» Ich beginne, die Wand zu beschreiben.
«Absolut.» Wie kann sie sich so sicher sein? Nun ist nur noch eine Wand frei, falls sie eine weitere neue Idee hat. Als ich die letzten Schritte oberhalb der Vierecke hingeschrieben habe, klebt sie die Fotos der Opfer und die Untersuchungsberichte auf. Aðalsteinn kommt in das Viereck mit dem ersten Schritt, Jón Ágúst in das zweite, das Foto von Kristján in der Krankenhauskapelle klebt sie in das Viereck, wo ich den sechsten Schritt notiert habe:
Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen.
Glaube und Heilung. Ich habe das Symbol richtig gedeutet und nur den Zusammenhang nicht erkannt. Über dem siebten Feld steht:
Demütig baten wir Ihn, unsere Mängel von uns zu nehmen
. Dort hängt Megan das neueste Foto von dem Mann auf dem Sofa auf, mit dem Tisch vor sich, vollgepackt mit den Symbolen seiner Fehler und dem Rosenkranz unter einem Stapel Pizzakartons. Megan hält das letzte Foto in der Hand und begutachtet die Schritte an der Wand, die noch übrig sind.
«Er gehört zum fünften Schritt», sage ich, und sie klebt das Bild von Bjarni Jóhannes in das Viereck, über dem steht:
Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber unverhüllt unsere Fehler zu
. Ich dachte an den Abend, als ich mit seinem Arbeitsbuch dasaß und nach Hinweisen suchte, aber nicht sah, dass der Hinweis das war, was eben nicht im Buch stand. Der Mörder weiß, was passiert ist und nicht im Buch stand. Wenn nicht Gott oder er selbst seinen Tod verursachten, dann muss es dieser «andere Mensch» gewesen sein. Sein Vertrauensmann.
«Megan, wir müssen herausfinden, wer die Vertrauensleute von den Opfern waren», sage ich. Dem Lover von Jón Ágúst zufolge hatte er gerade einen neuen Vertrauensmann bekommen, er wusste aber nicht, wen. Megan greift erneut zum Telefon und spricht in den Apparat:
«Iðunn, wir haben die Lösung.»
Seitdem die Sitzung einberufen worden ist und sich das Team die Erklärungen zu den Verbindungen zwischen den fünf Morden anhört, wirft mir Njörður tödliche Blicke zu, während Iðunn mich und Megan abwechselnd mustert. Ich kann aus ihrer Miene nichts anderes herauslesen, als dass sie erstaunt und froh ist und endlich einen Hoffnungsschimmer sieht. Njörður bohrt immer wieder eindringlich und ungläubig nach, aber Megan hat stets eine Antwort parat; sowohl das Muster als auch das System des Mörders seien klar.
«Allerdings», sagt sie, «könnte er sich jetzt, wo der Kreis enger wird, bedrängt fühlen, von seinen Gewohnheiten abweichen und Opfer auswählen, die nicht in sein Wunschbild passen, um das Werk zu vollenden.» Alle haben einen betretenen
Weitere Kostenlose Bücher