Zwoelf Verstossene auf Wallfahrt
Füße. Mit seinen Zähnen nagte er an seinem schmierigen Verband herum, der ihm offensichtlich lästig war. Da saßen nun die elf Helden in der Dunkelheit des späten Oktoberabends unter dem Kreuze am Ausgang der Stadt. Wenn sie zurückschauten, sahen sie tausend Lichter flimmern und funkeln, und ein schwaches Leuchten davon strahlte aus der Höhe wider. Wie ein dumpfes Brausen, bald lauter, bald schwächer, klang der nimmermüde Lärm des Großstadtlebens zu ihnen in die Dunkelheit heraus. Die »Verstoßenen« schwiegen. Emil war der erste, der auf einmal das Butterbrot der Schwester aus der Hosentasche klaubte und zu essen anfing. Da taten es die andern auch. Und es schmeckte! Bisweilen kamen von der Stadt her ein paar feurige Augen hellblinkend auf sie zu, dann fuhr immer ein Auto eilends vorüber. Es war herrlich für die elf Buben, so still dort unter dem Kreuze sitzen zu können. Langsam kam der Friede und die Ruhe in ihre aufgeschreckten und überladenen Herzen, sie fühlten sich trotz der Kühle ganz wohl, wie sie da so gemütlich beieinander hockten. Ach, und wie tat das den armen Beinen gut und den brandheißen Füßen. Keiner sagte ein Wort vom Weitergehen, obwohl sie ja alle an Dickendorf dachten. Jeder von ihnen war darauf aus, diese kostbaren Rastminuten möglichst noch ein bißchen zu verlängern.
Plötzlich sagte der kleine Theo: »Hier könnten wir eigentlich ganz schön unser Abendgebet beten !«
»Und dann ?« fragte Willem zurück. »Dann, ja dann könnten wir vielleicht auch ganz schön die Nacht hier sitzenbleiben! Hier tut uns doch keiner was !« fügte er wie zu einer Erklärung hinzu. Keiner widersprach, keiner stimmte zu. Das wollte überlegt sein. Schon der Gedanke, noch vielleicht eine Stunde weit laufen zu müssen, war eine Qual. Aber sie wollten doch nach Dickendorf, um zu den anderen zu kommen. Jedoch ging es einfach nicht mehr, wo so viel geschehen war. Der kleine Theo aber spann seinen Vorschlag unbekümmert weiter aus. »Wir wären dann morgen früh fein ausgeruht. Und wenn’s hell wird, könnten wir ja gleich nach Dickendorf laufen, da würden wir die andern sicher noch treffen .«
»Das ist richtig«, brummte Willem, »aber denk mal...«
Und schon war Theo wieder dran: »Ja, und der Karo mit seinem kranken Bein, der wäre sicher auch froh, wenn er nicht mehr zu laufen brauchte. Morgen ist das Bein sicher wieder gut .« Karo konnte sich nicht dazu äußern, Ludwig aber meinte: »O ja, der Karo könnte das schon brauchen, daß er jetzt hierbleiben könnte .«
»Hm !« machte Willem, »Mir ist es gleich, was wir machen, wenn uns nur nicht die anderen wieder davongehen!«
»Nee, nee«, sagte der dicke Emil, »die kriegen wir schon !«
»Also, wie ist es s« fragte Willem nun. Alle waren dafür, die Nacht unter dem Kreuz sitzenzubleiben, um erst morgen in der Frühe weiterzugehen. »Abgemacht !« sagte Willem, denn er war auch dafür. Sie kamen ja doch nicht mehr weiter.
»Dann mußt du also jetzt das Abendgebet beten«, sagte der kleine Theo wieder. Philipp meinte ganz ruhig, und es war ihm sicher ernst damit: »Du könntest es ruhig mal wieder aus dem Kopf beten, so ähnlich, weißt du, wie heute morgen! So, wie auf dem Hofe von der Wirtschaft, mein ich !« Willem war rot geworden, als der rote Philipp das sagte. Aber das konnte ja keiner sehen. Dann krabbelte er mühsam auf seine Füße, und auch die andern standen ächzend und seufzend auf und warteten.
Da machte denn Willem wieder ein großes Kreuzzeichen und fing an: »Lieber Gott! Das war heute aber ein schlimmer Tag! Wir sind es ja selber schuld, daß du uns so bestrafst, denn wir wissen es jetzt, daß wir nicht ohne Erlaubnis von Hause auskneifen durften, auch nicht, um eine Wallfahrt zu machen. Aber nun ist es passiert, und es tut uns schrecklich leid! Hilf uns jetzt, daß alles wieder gut in Butter kommt. Besonders bitten wir dich: Mach Herbert bald wieder gesund — (einen Augenblick konnte Willem nicht weitersprechen!), gib auch Karo bald sein gesundes Bein zurück! — (Jetzt mußte Ludwig schlucken!) Sorg, daß wir morgen gleich die andern finden und daß sie uns nicht böse sind. Und ja... In dieser Nacht... Los! Alle !« , und die übrigen zehn fielen in Willems Abendgebet mit ein... »sei du uns Schirm und Wacht, wollst uns bewahren vor Sünd und Leid, vor Satans List und Neid, in Todsgefahren. Amen.« Und wieder machte Willem ein großes Kreuzzeichen, nun war ihm viel leichter.
Die Erlebnisse in
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