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Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Titel: Zwölf Wasser Zu den Anfängen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Greiff
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zwischen die Stämme geriet, von der Libellenlarve, die drei Mal ihre Haut verließ, bevor sie sich in ein Luftwesen verwandelte. Das Wasser machte keinen Unterschied, es erzählte vom Kleinen und vom Großen, es durchströmte alles, was lebte, und alles, was starb.
    »Die Undae wachen über dich«, sagten die Mütter zu den Kindern, die sich vorm Einschlafen fürchteten. Und verschwiegen, dass die Undae nicht eingegriffen hatten, als das Volk, das in ihrer Nachbarschaft groß geworden war, im Feuer verglühte.
    »Die Undae wissen alles über dich«, sagte das Mädchen zu ihrem Liebsten, von dem sie glaubte, dass er sie betrog. Und der nur die Schultern zuckte, denn die Undae taten nichts außer zuhören. Die Undae waren das Gedächtnis der Welt, nicht ihr Richter, sie sprachen kein Urteil und sie ergriffen niemals Partei.
    Sie schwiegen.
    Sie zogen seit jeher in großen Kreisen langsam durch dasWasser des Sees, ließen es sich um die Hüften strömen und tunkten die Hände hinein. Welchen Sinn ihre Wache hatte, wem ihr Wissen dienen sollte, blieb verborgen.
    Aber sie wussten, dass das mächtige Heer des Welsenkönigs Farsten gegen Pram gezogen war und dass die Allianz der Pramer, Steppenläufer, Kwother und Seguren es vernichtet hatte. Sie wussten, dass ganz Welsien verbrannt war, dass alles Asche war. Sie wussten, dass nur wer in Goradt gewesen war oder sich rechtzeitig dahin hatte flüchten können, mit dem Leben davongekommen war. Es waren nur wenige. Als die voller Zorn zu den Undae gekommen waren, nach Vergeltung gebrüllt hatten und das große Sterben nicht hatten fassen können, hatten sie keine Antwort erhalten, sondern Trost. In der Grotte stand die Ewigkeit und in ihrer Anwesenheit verblasste der Schmerz und der Gedanke an Rache verlor jeden Sinn. Den Welsen war nichts geblieben außer dem Allerletzten, das jedem Wesen bleibt: dem Willen zu überleben.
    Mehr als hundert Soldern war es her, dass Welsien zu Asche geworden war, und immer noch gab es Leben in Goradt. Aber heute ging niemand mehr zu den Undae und klagte. Wer die Grotte betrat, der schwieg ebenso wie die Hohen Frauen im Wasser. Die Alten kamen zum Sterben, aber auch Kinder wurden gebracht; jeder, der den Wind, die Kälte, den Hunger, das Leben leid war, ging zu den Undae. Wenn er sie wieder verließ, hatte er meist genug Kraft geschöpft, um weiterzumachen.
    Indem sie nichts taten, taten die Hohen Frauen viel für das Volk, das sie nicht hatten schützen können und das nun stattdessen sie schützte und die Einsamkeit mit ihnen teilte. Die Undae waren da, wie sie seit Anbeginn da gewesen waren, und das genügte, um den Welsen eine Hoffnung zu geben, ohne die sie längst verhungert wären.
    Nun war wieder ein Firsten überstanden, und so, wie dieLendernblumen aus der frostigen Erde brachen, so wuchs die Hoffnung wieder in den Herzen derer, die ihn überlebt hatten. Klein und unscheinbar war diese Hoffnung, genau wie die Blüten, aber unausrottbar. Sie war nichts weiter als ein Lächeln beim Anblick eines Nukklamms, das, kaum geboren, auf langen Beinen über Fels stakste und viel zu früh die ersten, ungelenken Sprünge wagte, weil es solche Lust am Leben hatte. Und während oben das Leben seinen Wettlauf gegen die Hoffnungslosigkeit wieder aufnahm, standen unten die Undae im schwarzen Wasser und hörten zu, wie immer. Die Schmelze übergoss sie mit Nachrichten, sie nahmen sie auf, alle, sie waren Gefäße, die niemals voll wurden. Aber dieser Lendern brachte etwas Neues, nie Gehörtes.
    Und zum ersten Mal seit Beginn der Erinnerung unterbrachen die Undae ihr Schmelzlauschen und öffneten die Augen.
     
    Marken schob das in Leder gebundene und speckig gefasste Buch von sich.
    »Ich kann nicht lesen.«
    »Ich weiß«, sagte Borger, »wenn du es könntest, hätte ich es dir nicht gezeigt.«
    Der Schmied fuhr mit seinen von der Arbeit am Feuer vernarbten Händen über die Seiten. Der schwere Meisterring, den sein Sohn ihm als letzte Prüfung würde vom kalten Finger schneiden müssen, bevor er Borgers Erbe antreten konnte, schabte auf dem Pergament. Der junge Remled war zu Marken in die Rüstkammer gekommen mit der Nachricht, der Vater wolle ihn sprechen. Nun saßen die drei Männer um einen runden Steintisch im Hinterraum von Borgers Werkstatt, die, wie alle Schmieden, tief im Berg lag. Sie war in der Zeit davor in eine hohe Wölbung gebaut worden, der ehemals hellgraue Stein warschwarz verrußt. Es gab viele Bauwerke im Innern des Bergs, denn es

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