Zwölf Wasser Zu den Anfängen
sein, dass sie ihre Hoffnung auf Veränderung nicht zu hoch steigen ließ. Denn dann wäre der Absturz gewaltig und niemand könnte Estrid mehr auffangen, weder ihr Bruder noch ihr Mann.
»Estrid, der neue Stahl wird uns helfen können. Unsere Position wird sich verbessern. Wenn wir geschickt verhandeln. Unser Leben wird leichter werden. Aber … aber wir können nicht gegen Pram ziehen. Niemals wieder. Wie denn? Womit denn? Mit zweitausend Mann? Oder willst du mitkommen, sollen alle Frauen mitkommen und auch die Alten und die Kranken? Dann gehen vielleicht fünftausend Welsen gegen Pram. Estrid, wir kämpfen bereits.« Er fasste ihre Hand noch fester, denn sie wollte sie aus seiner lösen. »Drei Mal bin ich heute dem Tod begegnet. Wir kämpfen. Und es ist ein ehrenvoller Kampf.«
Jetzt ließ er sie los.
»Seltsam nur, dass wir mit unseren Toten die Schmelzöfen heizen. Ist das eine angemessene Bestattung für Helden?«
»Estrid, sei nicht ungerecht, wir sind keine Wilden. Das Feuer ist …«
»… das Tor ins Land der Unseren, Felt, darum geht es mir nicht, das weiß ich«, sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, »und ich bin genau wie du überzeugt, dass ein Körper hinderlich ist auf diesem letzten Weg. Aber hier, in dieser Stadt, auf diesem Berg, friere ich.«
Sie schwiegen.
Dann fragte sie: »Findest du, dass ich immer noch schön bin?«
Auch Estrid stand der Sinn nicht nach Streit. Auch sie mussteihre Kräfte einteilen. Und sie war nicht dumm genug, um von ihrem Mann Unmögliches zu verlangen. Er hatte im Gleichmut das Mittel zum Überleben gefunden, niemand hatte sich den Umständen so gut angepasst wie er. Estrid war überzeugt, dass Felts Leidensfähigkeit so groß war, weil er sie nicht als solche empfand. In ihren finstersten Momenten, in denen sie ihr ganzes Volk sterben sah, wenn einer nach dem anderen erfror, verhungerte, wahnsinnig wurde, blieb am Ende immer einer übrig und das war Felt.
Sie hob die Hand, strich ihm über die Wange, fühlte die harten Bartstoppeln und dann, dass sich die Kiefermuskeln entspannten. Er schloss die Augen und legte seinen Kopf in ihre Hand. Sie konnte, was keiner konnte: ihm die Strenge aus dem Gesicht wischen.
»Meine Frau muss nicht frieren«, sagte Felt. Auch er konnte, was keiner konnte: mit geschlossenen Augen eine Frage nicht beantworten und trotzdem die einzig richtige Antwort geben.
DRITTES KAPITEL
WAS HOFFNUNG IST
Als der Lendern endlich kam, mit nachlassenden Winden und so plötzlich, wie er nur in großen Höhen auftritt, begann der Berg zu murmeln: Es taute und überall tröpfelte Schmelzwasser und plitschte in kleine Mulden, sammelte sich zu glucksenden Rinnsalen, verschwand in Ritzen und Spalten oder sprang fröhlich hinunter in den Berst.
Dies war die Zeit, in der die Undae die Augen geschlossen hielten und lauschten.
Nicht weniger als achtzig Frauen standen bis zur Hüfte still im dunklen, glatten Wasser des unterirdischen Sees, in den, wie es hieß, jeder einzelne Tropfen auf seiner endlosen Reise einmal gelangen musste und wo er rasten durfte. Ihre langen, silbrigen Gewänder umflossen die Undae wie Seegras, durch das eine sanfte Strömung geht. Auf den kahlen Schädeln der Frauen lag der diffuse Schein der weißflammigen Fackeln, die die große Grotte in einem geisterhaften Licht erhellten. Der bleiche Schimmer wanderte, wie von einem eigenen Willen getrieben, bald hierhin, bald dorthin, umschwebte die Lauschenden, fiel auf weiße, gelbe oder braune Haut, die an Kopf, Rücken, Schenkeln und Armen von kunstvollen Narbenornamentenüberzogen war: lebendige Karten der Wege des Wassers, nur lesbar für diejenigen, die den Weg auch gehen konnten. Die diese Welt und diese Zeit verlassen konnten und stattdessen eintraten ins ewige Flüstern des Wassers, das über Stein rinnt. Die verstehen konnten. Die im Flüstern Geschichten hörten und sich dem unendlichen Strom der Erzählung hingaben, sich im Regen auflösten, ins Erdreich ferner Länder einsanken, in verborgenen Adern flossen, ans Licht gelangten, sich im unbarmherzigen Feuer der Sonne verflüchtigten und aufstiegen, bis sie wieder fielen – auf Stein, auf Gras, auf Moos, auf Blätter. Und die Reise fortsetzten.
Schweigend hörten die Undae dem Wasser zu und nahmen hin, was es ihnen sagte, und das war viel: Es murmelte vom Tod der Maus, deren Überreste der Regen in die Erde wusch, vom Flößer, dem wenig Zeit blieb, seine Unachtsamkeit zu bereuen, als er
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