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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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aufweckte. Das war kein Luftzug gewesen; er schaute hoch zu den Deckenöffnungen, ein hinter Wolken verborgener Mond sandte gerade genug Licht über den Nachthimmel, dass die Äste der Bäume sich schwarz davor abzeichnen konnten. Nichts rührte sich und auch kein Glöckchen klirrte. Das Feuer war heruntergebrannt. Smirn?
    Marken kam hoch, so schnell es seine steifen Beine erlaubten, drehte sich um. Und erschrak.
    Smirn stand auf dem Podest und schaute ihn an mit ihren lichtgefüllten Augen. Im schwachen Mondschein und unter den glimmenden Narbenranken war ihre dunkle Haut mattschwarz. Sie sah so fremd aus, so wenig menschlich, wie Marken es nie zuvor empfunden hatte. Ganz zu Anfang waren die Undae sehr unnahbar gewesen, aber dann hatten sie ein Band zwischen sich und den Männern geknüpft. Marken hatte sich nach der Flucht aus dem Uferstützpunkt am Eldron, wo sie ihn das erste Mal wirklich angeschaut hatte, so rasch an Smirns Gegenwart gewöhnt, dass er seine Zugehörigkeit zu ihr niemals mehr infrage stellte   – nicht einmal, als der Dämonenkönig seine Seele entzündet hatte.
    Als sie nun sprach, war ihre Stimme immer noch rau, hatte aber einen sehnsüchtigen, fast träumerischen Beiklang bekommen. Marken würde diese ersten Worte, die sie nach so langer Zeit sagte, niemals vergessen.
    »Ich habe Dinge gesehen, die sich die Menschen nicht einmal vorstellen können. Ich sah Schiffe den Fluss der Zeit hinauffahren, die Segel entflammt von Entdeckerlust. Sie sanken, während ich hinabtauchte. Ich sah die erste Quelle, den Anfang aller Anfänge, und dahinter sah ich im Dunkel Wahrscheinlichkeiten glitzern. Ich machte Rast im ewigen Hafen und sah ganze Welten wie Inseln im Strom der Zeit auftauchen. Und ich sah, wie sie untergingen, sich in der Unendlichkeit verloren wie Tränen im Regen. Ich war nichts. Und ich habe alles gesehen.«
    Sie lächelte. Sie, die Strenge, die Ernste, neigte den Kopf und lächelte Marken an.
    »Smirn … wie?«, stammelte er. Marken wusste nicht, was er sagen sollte. Menschen nahmen sich in solchen Augenblicken in den Arm, wenn Worte versagen und die Körper besser ausdrücken können, was in ihnen vorgeht. Aber Smirn war kein Mensch.
    » Smirn ?«, wiederholte sie und dachte einen langen Moment nach, ließ ihren Namen wie einen süßen Duft im dunklen, kühlen Raum hängen. »Ich erinnere mich an Smirn. Aber ich kenne sie nicht. Ich weiß nur von ihr. Das ist alles.«
10
    »Kersted, hier, kau noch ein wenig Singivera.«
    Nendsing schnitt eine dünne Scheibe von der gelblichen Wurzel ab und reichte sie ihm. Kersted war so übel   – und dasseit Tagen   –, dass er am liebsten gestorben wäre. Er lag entweder nutzlos herum oder hing über der Reling, was ihn derart beschämte, dass er sich nur zu gern hinab in die grauen, wogenden Fluten fallen gelassen hätte. Doch ihm fehlte die Kraft dazu. So elend, so schwach hatte er sich in seinem ganzen Leben noch nicht gefühlt.
    »Du bist seekrank, und zwar schwer«, hatte Nendsing gnadenlos diagnostiziert und dabei sehr frisch ausgeschaut. Der Wind plusterte ihr die Haare auf und die kühle, salzige Luft rötete ihre Wangen. Niemandem an Bord machte der Seegang etwas aus. Nur Kersted litt. Er kaute auf der Wurzelscheibe und schloss die Augen. Sie füllten sich mit Tränen, denn die Singivera war scharf; man hatte das Gefühl, sie öffne einem den Kopf. Ein kalter Luftzug trat durch die Nase ein, wehte durch den Schädel, fuhr dann hinab in die Eingeweide und beruhigte den Aufruhr dort so, wie das Pusten der Mutter die Schmerzen vom aufgeschlagenen Knie wegbläst. Kersted atmete erleichtert ein. Etwas besser. Er öffnete die Augen, lächelte Nendsing an.
    »Es wird bald vorbei sein, irgendwann hat sich dein Körper an die Schaukelei gewöhnt.«
    »Dies ist der erste und letzte Ausflug aufs Meer, das schwöre ich. Ich gehöre nicht aufs Wasser, ich will festes Felsgestein unter den Stiefeln haben.«
    Auch das Erdbeben hatte Kersted mehr mitgenommen als die anderen   – so schien es ihm wenigstens. Wenn die Welt ins Wanken geriet, verlor Kersted zu schnell den Halt. Er richtete sich auf.
    »Möchtest du ein wenig an Deck kommen?«, fragte Nendsing hoffnungsvoll. »Die Nacht hat ihr allerschönstes Sternenkleid angelegt. Ich könnte dir den Himmelsnehmer zeigen und auch erklären, wie er funktioniert; die Kwother haben ein prächtiges Exemplar hier an Bord.«
    »Dir gefällt diese Seereise, nicht wahr?«
    »O ja! Man hat einen so weiten

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