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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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sich auf seine Lippen; Marken war immer in einer Seilschaft mit Felt geklettert. Damals hatten sie das Gefühl gehabt, jeden Gipfel der ganzen Welt erklimmen zu können, nichts war ihnen zu hoch gewesen. Vielleicht konnte man nur so empfinden, wenn man jung war und nichts von der Welt wusste.
    Endlich war er so weit, das Boot hing sicher und ließ sich problemlos heben, doch inzwischen war das Wasser verschwunden, das Schiff lag ganz auf dem Trockenen. Große, laut schreiende Vögel umkreisten es, einige landeten auch, watschelten auf gelben Füßen umher und sahen mit starren Augen zu, wie Marken verpackte, was er zu brauchen glaubte. Dem Großteil der Schreivögel jedoch war das zu langweilig; sie holten sich Getier von den nun freiliegenden Felsen oder das, was in den Meerwassertümpeln dazwischen gefangen war. Am Bewuchs der Felsen konnte Marken gut erkennen, wie hoch das Wasser gereicht hatte. Ob es zurückkam? Wann? Wenn er jetzt sofort aufbrach, könnte er es vielleicht zu Fuß bis zur Küste schaffen. Dort musste er dann ohnehin klettern. Er sah zu Smirn. Immer noch pulsten die Lichtwellen über ihre Haut, immer noch huschten die Augen hin und her. Nein. Er würde es nicht riskieren. Er selbst konnte nicht schwimmen, und so merkwürdig es war, er war sich ganz sicher: Dieser Unda sollte eine Berührung mit Wasser vorerst erspart bleiben. Marken hatte keine Eile, für diesen Tag war es ohnehin zu spät. Also wartete er den Tidenhub ab, und weil es Nacht war, als das Wasser wieder stieg, wartete er noch länger. Er wusste nichts von den Gezeiten, er beobachtete einfach das langsame Ein- und Ausatmen des Meers. Er überlegte, wo er an Land gehen wollte, erkannte im auf- und ablaufenden Wasser die Strömungen, prägte sich die Positionen der Felsen ein, die bei hohem Wasser zwar verborgen waren, aber gefährlich werden könnten. Als er schließlich das Ruderboot zu Wasser ließ und sich dann selbst mit dem Flaschenzug über dieReling abseilte   – die in Segeltuch gehüllte Smirn trug er wie ein Paket auf dem Rücken   –, hatte er eine sichere Route durch die Brandungszone der beiden großen Eilande der Königsfluchten-Inseln im Kopf, um die ihn manch erfahrener Seemann beneidet hätte.
8
    Die zerklüftete Steilküste ließ sich leichter überwinden als gedacht: Dank der stufenförmig ausgewaschenen Felsen war es eher ein kräftezehrendes Treppensteigen als ein echtes Klettern gewesen. Oben angekommen, sah Marken ein zunächst steiniges, in der Ferne dann bewaldetes Flachland vor sich. Auf der Anhöhe wehte ein kalter, böiger Wind. Die Luft war zudem feucht, Marken schmeckte Salz auf den Lippen. Er setzte sich in Bewegung. Smirn auf seinem Rücken war nicht schwer und auch das, was er an Vorräten und Nützlichem bei sich trug, fiel nicht groß ins Gewicht. Aber dass ihm die Kwother seine guten Stiefel abgenommen hatten und er nun barfuß laufen musste, war hinderlich und brachte ihm einige Blessuren bei. Endlich hatte er Steine und Schotter hinter sich und trat auf weicheren Boden zwischen die Bäume. Bisher waren ihm nur Vögel begegnet, aber nun, im unübersichtlichen Dickicht, nahm er das Haumesser in die Hand. Wie lächerlich sich das anfühlte im Vergleich zu einem Schwert. Um sich einen Weg durchs feuchtkalte Unterholz zu schlagen, war es allerdings bestens geeignet. Marken hieb rhythmisch gegen dicke Efeuranken und stachliges Gestrüpp und merkte schnell, wie gut ihm das tat. Er fing an, bestimmte Haue und Hiebe zu schlagen, gestattete sich sogar die ein oder andere Parade gegen junge Bäume oder tief hängende Äste. Er war nicht nur ein Schiffbrüchiger, ein Gefangener, Gefolterter und Verbannter   – er war auch immer noch Offizier Marken, einer, der sich mit Waffen auskannte wie sonst keiner, und auch wenn er in der Kleidung der toten Kwother aussah wie ein zu groß geratener Seeräuber, war er doch immer noch ein welsischer Soldat. Schweiß trat ihm auf die Stirn, er ging weiter, schlug weiter und begleitete jeden Hieb nun mit einem wütenden Schrei, er brach durchs Unterholz wie ein wild gewordener Eber. Da rührte sich Smirn auf seinem Rücken und Marken hielt inne, schwer atmend. Als er sich etwas beruhigt hatte, hörte er es: Ein ferner, hoher Klang wie von Silberglöckchen wehte durch den Wald.
    Er hatte Smirn abgesetzt und das erste Mal seit Langem trafen ihre Augen seine. Markens Herz machte einen solchen Sprung, dass ihm die Luft wegblieb. Die Narbenlinien auf dem kahlen Kopf der Unda

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