Zwölf Wasser
glommen immer noch und auch ihre Augen leuchteten überhell, aber sie schienen wieder zu sehen, was in dieser Welt geschah.
»Smirn.« Marken sprach leise, musste sich räuspern. Seit dem Sturm hatte er kaum gesprochen. »Wie geht es dir?«
Sie schaute ihn an, blickte sich dann um. Sie sagte nichts. Marken half ihr aus dem Segeltuch, in das er sie gewickelt hatte.
»Smirn, erkennst du mich? Weißt du, wer ich bin?«
Sie legte einen Finger an die Lippen, um ihn zum Schweigen aufzufordern. Sie lauschte. Da war es wieder, das Klingeln ferner Glöckchen. Smirn wandte sich zum Gehen und Marken wollte schon vorauseilen, um ihr den Weg freizuschlagen. Da sah er, dass unter den bloßen, seitlich vorgestreckten Händen der Unda die Pflanzen nachgaben und wegknickten; es war, als würde ein Wind Smirn begleiten oder als schöbe sie eine zwar unsichtbare, aber große und mächtige Bugwelle vor sich her. Marken folgte staunend, das Haumesser in der Faust.
Das Klingeln wurde lauter und schließlich kamen sie an eine Lichtung, die, wie Marken schnell feststellte, eigentlich ein Platz war. Der Wald hatte begonnen, sich diesen Freiraum zurückzuholen, aber unter dem Moos und zwischen Unkräutern und Schösslingen lagen Steinplatten. Sie gingen weiter und Marken bemerkte, dass von diesem Platz eine Schneise durch den Wald führte. Das war ehemals eine breite Straße gewesen. Erst als sie fast davorstanden, erkannte Marken die großen, überwucherten Gebäude links und rechts dieser schnurgeraden Straße. In einer vergleichbaren Stadt war er mit Smirn schon einmal gewesen und Marken wusste, dass er hier keine Waffe brauchen konnte: Sie waren in einer Nadhina-Mmet, einer kwothischen Totenstadt. Ein Rascheln im Gebüsch ließ ihn zusammenfahren. War da etwas Kleines, Helles davongesprungen? Marken hatte zwar an Proviant gedacht, an Wasser, Waffen, Seile, an Feuerstein und Zunder, sogar an einen Mantel für Smirn – wonach er an Bord des Schiffs aber nicht gesucht hatte, war Geld. Das hatte er völlig vergessen, er hatte einfach keine rechte Beziehung dazu. Falls es hier Ghajels gab, war er ihnen wehrlos ausgeliefert. Allein die Erinnerung an die zierlichen Rehe mit den hinterlistigen schwarzen Augen genügte, um Marken den tödlichen Gestank ihres Auswurfs wieder in die Nase zu treiben.
9
Ohne Zögern war Marken Smirn in das Totenhaus gefolgt, in dessen hohem Portal ein ganzer Strang kleiner Glocken hing. Obwohl das quaderförmige Gebäude überwuchert war, konnte man doch die ehemalige Pracht sehen. Marken war schon bei seinem ersten Besuch einer Nadhina-Mmet von den in der Abendsonne glitzernden Fassaden beeindruckt gewesen. Hieraber wurde der Aufwand mit dem Tod noch viel weiter getrieben. Der Raum war riesig, die Wände mosaikgeschmückt, die hohe Decke wurde von wuchtigen, augenscheinlich goldverkleideten Säulen gestützt. Kurz flammte die Erinnerung an den Thronsaal des Dämonenkönigs in Markens Kopf auf, aber hier brannte kein Feuer. Es war kühl in diesem mit schummrig grünem Licht gefüllten Raum. Durch die viereckigen Deckenöffnungen rankten sich Pflanzen hinab und man konnte die Baumkronen sehen, deren Blätter bereits starben und sich von den Zweigen lösten. Es raschelte, als Smirn durch altes, trockenes Laub zu dem einzigen, um einige Stufen erhöhten Steinquader ging, den dieses Haus beherbergte. Das Rascheln ihrer Schritte strich als wisperndes Echo über die Wände des Raums und verwebte sich mit dem silbrigen Klang der Glöckchen zu einem melancholischen Lied über die Vergeblichkeit allen menschlichen Strebens. War das so? War wirklich der Tod der Herrscher über das Leben? Obwohl alles an diesem Ort darauf ausgelegt war, einen Besucher das glauben zu machen, sträubte sich in Marken etwas gegen diesen Gedanken. Ihn jedenfalls hatte der Tod bisher im Stich gelassen. Er musste sich wohl um den Rest des Kontinents kümmern.
Smirn stieg die Stufen empor und beugte sich über den Steinsarg. Marken dachte erst, sie wolle auch diesmal die Grabinschrift lesen. Aber Smirn strich nur ein paar Blätter und Staub von der Oberfläche und legte dann ihre Arme, ihren Oberkörper und ihre Wange auf den Stein, schloss die Augen und verharrte in dieser ruhenden, fast zärtlichen Stellung. Marken wartete. Sie blieb so. Was tat sie, trauern? Konnte eine Unda das überhaupt? Was immer es war, Marken war erleichtert, dass sie überhaupt etwas tat, auch wenn er es nicht verstand. Er legte die Taschen und Bündel ab, wartete
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