Zwölf Wasser
bereits dämmerte, hatte Kersted eine Ahnung davon bekommen, wie der Himmelsnehmer zu gebrauchen war. Man konnte viel mehr mit dem Instrument tun, als lediglich die Zeit zu bestimmen. Die Voraussetzung für all die faszinierenden Anwendungsmöglichkeiten war aber, dass man ein tiefes Verständnis für den Himmel und die Welt darunter entwickelte. Es kam darauf an zu begreifen, wie beide aufeinander Bezug nahmen. Das war das eigentliche Geheimnis des Himmelsnehmers und eigenartigerweise das, was Kersted als Erstes verstand. Nendsing hätte zu Beginn nur sagen müssen: Dies hier verbindet dich mit dem Himmel und der Erde. Hiermit kannst du die Sterne in der Hand halten und hast gleichzeitig den Beweis, dass in unserer Welt alles zueinander passt.
Der Himmelsnehmer brachte Ordnung in ein Chaos, das keines war, sondern nur als solches empfunden wurde. Die Gesetzmäßigkeiten, denen die Welt folgte, waren für einen Menschen nicht ganz leicht zu durchschauen. Kersted verstand Nendsings Wissensdurst nun besser und auch ihm selbst wurde wohler zumute bei dem Gedanken, dass alles Sinn und Zusammenhang hatte. Obwohl das Schiff in der kräftigen Morgenbrise wieder heftiger schwankte, war Kersteds Übelkeit fast verschwunden. Er war endlich bereit, sich an der Suche nach der Quelle zu beteiligen.
Kersted stand neben Utate am Bug und blickte über die bis zum Horizont ineinanderrollenden Wellen. Ein paar laut schreiende Vögel umkreisten das Schiff, und obwohl im Augenblick kein Land zu sehen war, wusste Kersted, dass welches in der Nähe war, nur einen halben Tag entfernt. Er hatte endlich gelernt, die Seekarten zu lesen.
»Wir werden sie bald finden«, sagte er zu der Unda. »Die Quelle auf irgendeine Weise … erspüren kannst du nicht, oder?«
»Nein«, sagte Utate und wandte sich ihm zu. »Es mag sich widersinnig anhören, aber das Meer verhindert das.«
»Und der Hüter? Könnten wir nicht nach ihm Ausschau halten?«
»Dafür müsstest du unter Wasser suchen, Kersted. Wir sind ganz auf Nendsings Künste angewiesen.«
»Sie gibt sich größte Mühe.«
»Ich weiß.«
Die beiden schwiegen, während zwei der nord-kwothischen Seeleute einen Blecheimer ins Wasser hinunterließen. Sie zogen ihn wieder hoch, einer schöpfte daraus, trank. Und spuckte das Wasser sofort wieder aus. Salzig. Also mussten sie weitersuchen.
»Ob Dern zurück in Gham-Sarandh ist? Ob Marken und Smirn endlich die Quelle des Naryns erreicht haben?«
Utate antwortete nicht auf Kersteds Fragen und in ihrem Schweigen wurden seine Befürchtungen immer lauter. Drei gehen, nur zwei bestehen. Die düstere Prophezeiung des Steppenläufers und der Szasla ließ seine Sorge um Marken und Smirn wachsen wie ein wiederkehrendes Unkraut. Immer wieder versuchte Kersted sich einzureden, das sei eine seltsam dramatische Mahnung zur Vorsicht gewesen, mehr nicht. Wer weiter als die anderen geht, der stirbt allein. Aber immer wieder wucherte seine Besorgnis, wenn ihm die Sätze in Erinnerung kamen. Ob er Utate nicht doch davon berichten sollte? In ihrem Gesicht stand tiefe Sorge. Nein, er würde sie nicht auch noch mit den dunklen Worten des Läufers belasten. So oder so stand fest: Die Quelle des Naryns, die Quelle der Liebe, durfte nicht versiegen. Und auch die Quelle der Friedfertigkeit, die sie hier auf dem Meer suchten, war in diesen Tagen noch wichtiger geworden als zuvor. Denn wie sollte in Kwothien jemals wieder Frieden einziehen, wenn sie versiegte? Gut möglich, dass der Krieg inzwischen voll entbrannt war. Wann würde diese Nachricht Pramerreichen? Und wann Goradt? Frühestens im nächsten Solder. Kersted schauderte bei dem Gedanken, dass ein zum Großteil aus welsischen Kindern bestehender Treck im Uferschlamm des Eldrons steckte und sich vollkommen unvorbereitet in einer Welt wiederfand, in der Dämonen regierten.
Das Schiff änderte den Kurs; Nendsing und der Kapitän suchten systematisch, konnten aber die Windrichtungen nicht einfach vernachlässigen. Heute wollten sie ein Gebiet abfahren, das sie zwar schon mehrfach durchkreuzt, aber aufgrund von ungünstigem Wind noch nicht erschöpfend untersucht hatten. Die Gischt spritzte nun über die Reling und Utate trat vom Bug zurück, um dem Wasser auszuweichen. In Kersteds Begleitung wanderte sie zum Heck.
»Kannst du mir nicht ein wenig vom Meer erzählen?«, bat er. »Jetzt, wo mir nicht mehr so furchtbar übel ist, fängt es an, mich zu interessieren.«
»Das kann ich gut verstehen, Kersted, und es
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