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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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gestreckten Arm zerrte er immer noch das Packpferd neben sich her. Das Mädchen, das scheue Ding   – auch sie sah Kersted nun an und in ihrem Gesicht war nichts Scheues mehr, sondern verbissene Entschlossenheit. Und da erkannte Kersted sie: Das war die Sternenguckerin! Das war Nendsing, die segurische Astronomin, die mit ihm den Turm hochgestiegen war und ihm Berge auf dem Mond gezeigt hatte.Was machte sie hier? Warum war sie mitgekommen, heimlich? Sie wandte den Kopf. Eins ihrer Tücher löste sich und schwebte davon.
    Da sah Kersted den Riss.
    Die Erde tat sich auf, mit rasender Geschwindigkeit. Irgendwo in der Ferne nördlich von ihnen brach die Ebene auseinander; unsichtbare Riesenhände zerrten am trockenen Erdboden wie an einem mürben Stoffstück und rissen. Die sich öffnende Spalte war groß   – und wurde schnell größer. Der gezackte Riss lief von der Seite her direkt auf sie zu. Kersted sah Dornbüsche, dürre Bäumchen, Felsbrocken im staubigen Dunkel verschwinden. Die anderen mussten schneller reiten, noch schneller, sonst würde der Riss auf sie treffen. Sich in die Flanke der Reitergruppe schlagen wie ein Rudel Wölfe ins flüchtende Wild. Und sie auffressen. Oder sie alle? Kersted, bemüht, sich und Fander auf dem Rücken des bebenden und immer wieder steigenden Pferdes zu halten, blickte der auf sie zureitenden Gruppe entgegen und sah von links die sich öffnende Spalte näher kommen. Er begriff schlagartig: Der Riss und die Reitergruppe träfen zur gleichen Zeit ein, hier. Hier, wo er war und verbissen versuchte, nicht vom panisch auf der Stelle tänzelnden Pferd zu fallen. In dieser großen, weiten Ebene gab es einen Ort, den man an diesem Tag und zu dieser Stunde meiden sollte, einen Ort, an dem der Boden verschwand. Und genau dort sollten an diesem Tag und zu dieser Stunde alle Beteiligten aus Kersteds Reisegruppe zusammenkommen: hier. Weg hier!
    Aber es war zu spät. Kersted versuchte, das Pferd zu bändigen, wollte flüchten, weg von dem Ort, der bald in der Spalte verschwinden musste. Er wollte Utate zurufen: Los! Weg hier! Reite! , wollte sich selbst retten und alle anderen   – aber was war die Not, was war der Wille eines einzelnen Menschen gegen dieGier des Kontinents, der brüllend das Maul aufriss, um sie alle zu verschlingen?
    Nichts.
    Der Schlund tat sich krachend weiter auf wie ein breites, dämonisches Grinsen. Immer näher kam der Abgrund von links auf ihn zugelaufen, war beinahe da. Ein plötzlicher Luftzug blies Kersted entgegen, ein heißer Atem. Das Pferd, stumpf geworden gegen die Befehle seines Reiters und zermürbt vom Lärm und vom bebenden Boden, ging ein paar Schritte rückwärts, zum Laufen reichte es nicht mehr. Vor ihnen klaffte dunkle Tiefe, notdürftig bedeckt von einem Schleier aus Staub. Kersted sah das Schimmern von Utates Gewand im Augenwinkel, er spürte ihre Anwesenheit   – und er spürte Reue.
    Nicht eine einzige Quelle hatten sie erreicht.
    Der Tod ist groß. Du wirst ihm gegenübertreten. Bereite dich beizeiten auf diesen Moment vor.
    Sie hatte es ihm doch gesagt, die strenge, dunkle Smirn. Doch er hatte es nicht getan, hatte sich nicht vorbereitet. Ob die Zeit noch reichte? Konnte ein Tod größer sein als dieser? Nein. Sie wurden vom Kontinent selbst verschlungen   – größer konnte man nicht sterben. War Kersted denn bereit dazu?
    Er spürte Fanders Umklammerung, sah die sich kreuzenden Fäuste des Kameraden auf seiner eigenen Brust. Beide waren sie noch oben, saßen aufrecht auf dem Pferd, das nun unter ihnen zusammenbrach. Das mit ihnen in wenigen Augenblicken noch tiefer stürzen würde, tief hineinrutschen würde ins hungrige Maul der Erde. War er bereit dazu?
    Als das Krachen des berstenden Bodens unaushaltbar geworden war, hörte es auf   – Kersted nahm nur noch das hohe Pfeifen im Ohr wahr. Aber er sah.
    Vor ihm war die Erde offen, ein finsterer Abgrund. In dieses Dunkel fielen die pramschen Soldaten wie rollende Erbsen übereinen Brunnenrand. Die Männer hatten im letzten Moment noch versucht, die Richtung zu ändern, aber die Pferde rannten, rannten. Rannten geradewegs in den Tod. Der laufende Riss, das sich verbreiternde dämonische Grinsen, hatte sie erwischt. Und verschluckte sie. Kersted sah schreckensweite Augen, losgelassene Zügel, sah Schreie und hörte dabei nur einen schwingenden, hohen Ton. Er spürte einen Sog, die vordere Bruchkante war nur wenige Schritte entfernt, es war, als wollte die sich öffnende Erde ihn

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