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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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einatmen in einem gewaltigen, heißen Atemzug. Nein!
    Nein, er war nicht bereit. Er wollte leben.
    Er wollte nicht in diesen tiefen Graben gesaugt werden. Er schrie. Und er sah, dass auch Nendsing schrie   – vor Wut. Auch sie war nicht bereit zu sterben. Sie schien zu schweben, vor ihm, stand in den Steigbügeln, war weit vorgebeugt, hatte ihr Pferd zum Sprung über den Abgrund getrieben. Dann verschwand auch sie. Es hatte nicht gereicht.
3
    Ein hoher Ton. Ein vibrierendes Pfeifen, nein, ein Sirren. Ein Sirren wie von unzähligen gläsernen Flügeln, ein Glitzern in blauer Luft. Das Licht ist mild hier, der Ort ist verborgen im Wald. Ein sicherer, ein magischer Ort. Eine schemenhafte Gestalt, ein Junge, fast nackt. Er hockt, hinter ihm fließt Wasser, jetzt schaut er auf. Klemmt sich die Haare hinters Ohr. Er redet, er plappert, was sagt er? Tiefes Glucksen aus der Quelle übertönt seine Worte. Er steht auf, wedelt mit den Armen, was will er? Das glitzernde Sirren schwillt an und ab, an und ab, ein leuchtender, heller Puls. Ein ewiger Herzschlag. Das Leben geht weiter, das Leben geht weiter.
    Das Glitzern verdichtet sich, verschwimmt zu einem Schimmern, hinter dem der Junge verschwindet. Aber der hohe Ton, das hoffnungsfrohe Sirren bleibt. Utate.
    Utate war Kersteds erster Gedanke und aus dem verschwommenen Schimmern formte sich ihre Gestalt. Sie kniete nah bei ihm, sprach   – aber nicht zu Kersted. Die Unda redete auf das Pferd ein, er verstand nicht, was sie sagte, aber sah, dass sich die Lippen bewegten. Da spürte er den Druck. Es lag auf ihm. Irgendwie war Kersted unter den schweren Pferdekörper gerutscht, als … als der Kontinent ihn verschlucken wollte. Er hatte es nicht getan. Kersted lebte.
    Er lebte!
    Aber er bekam kaum Luft. Er stemmte die Arme gegen den harten, heißen Leib des Tiers, es zitterte immer noch. Dann, mit einem Mal, ließ der Druck nach. Das Pferd war kaum auf den Beinen, als es davontrabte. Kersted stützte sich auf. Seine Stiefelspitzen waren nur zwei Handbreit von der Bruchkante entfernt, von der immer noch sandiger Boden in die Tiefe bröckelte. Kersted robbte hastig weg, Arme griffen nach ihm, zogen ihn hoch. Fander. Verstaubt und mit blutender Nase. Kersted legte die Hände auf die Ohren, um anzuzeigen, dass er nicht hören konnte, was der Kamerad ihm sagen wollte.
    Die Ebene war nur mit einer dünnen Haut schmutzig roter Erde bedeckt, darunter lag Felsgestein. Das war gut zu erkennen, als sie in den Abgrund spähten. Er verlief fast exakt in Nord-Süd-Richtung und hatte mit grausamer Genauigkeit den Weg der westwärts durchs Land der Steppenläufer ziehenden Reisegruppe gekreuzt. Die Kluft war hier ungefähr zwanzig Schritte breit   – nördlich von ihnen mussten es hundert und mehr werden, gen Süden verengte sich der Spalt, bis er ganz unter faltig wirkenden Verwerfungen der Erdhaut verschwand. DieTiefe war nicht auszumachen. Aber von dort unten schien ein unheimliches, gelbrotes Glühen herauf   – gemeinsam mit einer kaum auszuhaltenden Hitze. Am tiefen Grund des Erdspalts brannte ein Feuer, so heiß, dass es den Stein zum Schmelzen brachte.
    Darüber aber, nur gerade außer Reichweite der beiden an der Kante knienden Welsen, stand Nendsing auf einem Vorsprung. Sie gestikulierte wild, war schweißüberströmt, der heiße Aufwind blähte ihre langen Haare zu einer Mähne. So wütend, wie sie sich dort auf dem schmalen Steinsteg gebärdete, konnte sie nicht schwer verletzt sein. Nein, sie schien keinen Kratzer abbekommen zu haben. Wie eine Katze, dachte Kersted, ein kleines, fauchendes Kätzchen. Er grinste, was sie noch wütender machte. Sie konnte nicht ahnen, dass Kersted keinen Ton ihres Schimpfens verstand. Er hörte das klirrende, gläserne Pfeifen, sonst nichts, und es erfüllte ihn mit einer Unbekümmertheit, die völlig unangemessen war. Eben noch verzweifelt und dem Tode nah, blickte Kersted nun beinahe frohgemut in den kochenden Schlund der Erde. Das Pferd hatte ihm mindestens zwei Rippen gebrochen, das Atmen war stechend schmerzhaft, aber Kersted scherte sich nicht darum und dankte seinem Brustschutz, dem guten, harten Welsenstahl, der ihn vor Schlimmerem bewahrt hatte. Er war taub   – mehr oder weniger   –, er war kurzatmig. Aber er lebte. Und er hatte sein Leben noch nie so geliebt wie jetzt. Dass die Sternenguckerin ebenfalls überlebt hatte, machte ihn noch froher. Kersted konnte gar nicht anders, als unablässig zu grinsen.
    Aber es wurde Zeit, sie

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