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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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Kruste in tieferen, feuchteren Schichten kroch und krabbelte, kam hervor: Die Erde spie in Wellen Insekten und kleine Kriechtiere aus, und was fliegen konnte, flog. Durch den Schleier aus Staub und Insektenschwärmen sah Kersted Utatenur noch als schemenhaftes Flimmern. Er rief nach ihr, aber er hörte seine eigene Stimme nicht mehr im tiefen Trommeln der bebenden Erde.
    Dann wurde es schlagartig still. Zwei, drei panische Atemzüge lang nahm Kersted nur das Summen in der Luft wahr und das heftige Zittern des Pferdekörpers unter ihm. Er hatte sich mit beiden Fäusten in der Mähne verkrallt, über den Hals des Tiers liefen Zuckungen. Kersted wollte nicht fallen, wollte nicht auf diesen Boden, der so plötzlich ein Eigenleben bekommen hatte, der sich aufbäumte und selbst seinen kleinsten Bewohnern keine Heimat mehr bot, sondern sie ausspuckte wie bittere Kerne.
    »Wirf mich nicht ab«, bat er flüsternd. Und jetzt, wo er seine Stimme hören konnte, hörte Kersted auch seine Angst. Er fühlte sich ausgeliefert wie nie zuvor. Zeitlebens hatte er Kälte, Sturm, Schnee, Lawinen widerstanden, war aufgewachsen in einer der unwirtlichsten Regionen des Kontinents   – aber dass der Kontinent selbst, die Erde sich gegen ihn zur Wehr setzte, das erschütterte ihn. Für einen Welsen konnte er erschreckend schlecht mit Ablehnung umgehen.
    »Wirf mich ja nicht ab«, sagte er wieder. Aber diesmal war es keine Bitte und diesmal war er sich selbst nicht sicher, ob er das Pferd meinte oder das Land.
    Es war das Land, das antwortete. Heftig und laut. Der zweite Erdstoß war ungleich stärker als der erste, aus dem tiefen Trommeln war ein dröhnendes Brüllen geworden, dessen Lautstärke Kersted in die Eingeweide fuhr. Er fühlte den Lärm mehr, als dass er ihn hörte, seine Haut, sein Herz, sein Magen, ja selbst seine Knochen vibrierten im krachenden Schrei der Erde.
    Das Pferd brach seitwärts aus, machte ein paar stolpernde Schritte, stand dann bebend mit gespreizten Beinen und angelegten Ohren. Es will rennen, dachte Kersted, nur wegrennen   – aber wohin? Alles schwankte, alles grölte, sie waren mittendrinin einer maßlosen Trunkenheit. Er klammerte sich noch fester in die Mähne und wusste: Das ist Todesangst. Kersted roch den Schweiß des Tiers, aber darüber, schärfer, roch er seinen eigenen Angstschweiß. Sein Körper reagierte, die Fäuste krallten, das Herz hämmerte, der Atem war flach und schnell und jede Faser kreischte Ich will nicht sterben ins gewalttätige Toben umher. Seltsamerweise wurde Kersteds Denken klar, als er seine Todesangst erkannte. Seine Muskeln krampften weiter, er zitterte und der Puls raste, aber sein Geist war ruhig und kühl geworden. Utate. Nur um sie ging es, sie durfte nicht sterben. Wo war sie?
    Im betäubenden Lärm konnte er nicht rufen. Aber dort, dort sah er sie, vielleicht zwanzig Schritte entfernt. Die Unda war wie er weit über den Hals ihres Pferdes gelehnt. Jedoch klammerte sie sich nicht fest. Soweit er es erkennen konnte, hatte sie die Arme ausgestreckt, als wollte sie das Tier beruhigen. Utates Pferd trat auf der Stelle und schien mit wiegenden Schritten die Schwankungen des Bodens auszugleichen wie ein Seemann auf den Planken. Ganz in Utates Nähe konnte Kersted Fander sehen, der offenbar abgeworfen worden war und mit über den Kopf gelegten Armen im Staub zwischen rollenden Steinen kniete. Der Rest? Wo waren die Soldaten, die Dienerschaft, die Packpferde? Kersted konnte zwar denken, aber seinen steinhart verkrampften Nacken nicht bewegen, sich nicht umdrehen.
    Wieder wurde es mit einem Mal still. Zwischen niedrigen Dornbüschen sah Kersted ein paar graue Hasen um ihr Leben rennen. In der plötzlichen Ruhe wirkte die anhaltende Panik der Nager so absurd, dass Kersted laut auflachte. Übergangslos wurde sein Lachen zu einem Würgen, und als sei dies die letzte, aber notwendige eigenmächtige Handlung seines Körpers, erbrach er sich. Dann atmete Kersted tief ein, konnte sich aufrichten, spürte, wie er die Kontrolle zurückbekam, drehte den Kopf,in dem ein hoher Pfeifton an- und abschwoll. War es das nun gewesen? War das Beben vorüber? Die Stille klang gespenstisch und Kersted war dankbar, als das Pferd schnaubte und den Kopf hochwarf, sich wenden ließ.
    Zwei-, dreihundert Schritte entfernt, bekam auch der Rest der Reisegruppe die Reittiere wieder in den Griff. Die unvermittelten Erdstöße hatten Kersted, Utate und Fander von den anderen getrennt. Deren Pferde hatten

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