Zwölf Wasser
einander mit ihrer Angst angesteckt; als Herde waren sie durchgegangen, nun kamen sie gemeinsam zurück. Kersted hörte den Hufschlag, dumpf zwar unter dem Pfeifen im Ohr, aber auch dieses Geräusch war eine Erleichterung – ein vertrauter Klang und nicht das Brüllen eines sich wälzenden, riesenhaften Untiers, das er bis heute nicht gekannt, sondern für die Erde gehalten hatte.
2
»Mir geht es gut.«
Utate nahm Kersteds Frage vorweg. Immer wieder aufs Neue war Kersted beeindruckt von der Schönheit dieser Frau, die im Grunde nichts von dem hatte, was ihn sonst zu Frauen hinzog. In Utates schlanker, hoher Gestalt spiegelte sich das Erbe ihres Vaters, des Quellhüters Sardes. Ihr kahler, vernarbter Kopf erstickte jede Fantasie von langen, weichen Haarsträhnen, in die man die Hände hätte graben können. Und Utates Brüste … Kersted konnte nicht weiterdenken, nicht einmal hinschauen. Der helle, wimpernlose Blick der Unda ruhte auf ihm und ihm wurde klar: Er begehrte sie nicht – er verehrte sie. Sie war die große Ausnahme, die schönste Frau, die er je gesehen hatte, und gleichzeitig die, die er nicht haben wollte. Kersted hatte das Gefühl, etwas Grundsätzliches begriffen zu haben, wussteaber nicht recht, was. Und jetzt war nicht der Moment, darüber nachzugrübeln.
»Fander, alles in Ordnung?«
»Jawohl, Herr Offizier!«
Dem Angesprochenen lief ein feines Rinnsal Blut aus der Nase. Er wischte es mit dem Handrücken weg. »Nur vom Pferd gefallen, nichts weiter.«
Kersted zögerte, denn in den grauen Augen des Soldaten lag etwas seltsam Abwesendes – und nicht etwa Schmerz oder Angst, wie nach diesem Beben zu erwarten gewesen wäre. Aber er fragte nicht weiter. Fander, kaum älter als der Pfadmeister, war immer schon besonnener als Kersted gewesen, ein in sich gekehrter junger Mann. Manchmal erinnerte er Kersted an Felt.
Die anderen, zwanzig pramsche Soldaten, dazu Diener und der Koch mit seinen Gehilfen, waren noch immer ein Stück weit weg, kämen aber bald bei ihnen an. Vorneweg ritt kein Soldat, sondern der Feldkoch, ein untypisch hagerer, fast schmächtiger Mann – vielleicht war das so, wenn man immer nur die Versorgung anderer im Sinn hatte. Der Koch führte sein Packpferd an einer Leine neben sich her; die Gerätschaften und Vorräte, die es trug, waren sein kostbarster Besitz und niemand aus dem Reisetrupp durfte sich den Töpfen und Pfannen auch nur nähern. Direkt hinter dem Koch ritt Utates Dienerin auf die Wartenden zu. Sie war ein kleines, scheues Ding. Immer schlich sie mit gesenktem, unter Tüchern verstecktem Kopf umher und tat beschäftigt, obwohl sie nichts zu tun hatte. Wie sollte man einer Frau dienen, die weder aß noch schlief noch sonst irgendetwas tat, was Frauen normalerweise tun? Kersted hatte zweimal versucht, die Dienerin anzusprechen, und jedes Mal war sie geflüchtet wie ein junges Häschen, das aus Versehen den Jäger zu nah herangelassen hatte. Nicht einmal ihr Gesicht hatte Kersted bisher richtig erkennen können. Auch jetzt schaute sie nicht nach vorn, sondern zu Boden.
Dieser Boden schrie wieder auf.
Ohne Grollen, ohne Vorwarnung krachte ein solcher Schlag durch die Ebene, dass Kersteds Herz aussetzte. Fander streckte den Arm nach Kersted aus wie ein Ertrinkender, sein Mund formte ein Weg hier! und Kersted packte ihn. Er handelte instinktiv, ließ der Angst keine Zeit, von ihm Besitz zu ergreifen, und schaffte es, den Kameraden zu sich auf das steigende Pferd zu ziehen, noch bevor sein Herzschlag wieder einsetzte und er atmen konnte. Diesmal bewegte der Erdboden sich nicht in den langen Wellen tiefer Schläge. Sondern erzitterte wie im Trommelwirbel Abertausender Hufe. Der Lärm war kein ungeheures Dröhnen, das die Eingeweide zum Schwingen brachte, sondern viel schlimmer: Ein brutales Reißen und Brechen wie von monströsen Sehnen und Knochen peitschte durch die Luft und Kersted glaubte, dieses machtvolle Geräusch müsse ihm den Kopf zwischen die Schultern drücken. Aber es gelang ihm, den Arm zu heben. Ein verzweifelter Versuch, die anderen – den Koch, das Mädchen, die hinter ihnen herangaloppierenden pramschen Soldaten – zu sich zu winken, zur Flucht anzutreiben. Zur eiligen Flucht heraus aus dieser Ebene, weg von diesem unsicheren Grund. Aber die anderen flüchteten bereits, brauchten keinen Ansporn. Sie ritten um ihr Leben, waren vielleicht noch hundert Schritte entfernt. Der Koch hatte die Augen weit aufgerissen, am lang
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