Zwölf Wasser
pramsche Soldat hatte sich die Beine gebrochen. Er kroch von seinem Pferd weg und auf die steile Wand zu. Der Vorsprung, auf dem er gelandet war, war groß, maß ungefähr zehn mal fünfzehn Schritt. Aber er war ein Gefängnis, eine an die Steilwand geheftete Insel – keine angrenzenden Felszacken, kein noch so schmaler Sims war von dort aus zu erreichen. Nun hatte der Mann die Wand erreicht, blickte daran hoch. An der Art, wie ihm der Kopf wieder auf die Brust sank, war zu sehen, dass er seine aussichtslose Lage erkannt hatte. Mehr als dreißig Schritte lotrechte Felswand trennten ihn von der oberen Kante. Er drehte sich mühsam um, lehnte den Rücken an die Wand, saß mit schmerzverzerrtem Gesicht, die Hände in die Oberschenkel seiner zerschmetterten Beine gekrallt. Es musste unerträglich heiß sein dort.
Kersted würde nie den Moment vergessen, als der Mann ihn sah. Das Aufleuchten der Hoffnung überstrahlte allen Schmerz und alle Verzweiflung. Aber dann fiel wieder der Schatten des Todes auf ihn und die Züge des Soldaten verfinsterten sich. Es war unmöglich, ihn zu retten. Er begann zu weinen. Kersted erhob sich.
Der junge Pfadmeister hatte begriffen, endlich begriffen. Der Tod war ausweglos. Der Tod war einsam. Der Tod war eine Insel über dem Feuer, von der aus man das Leben zwar noch sehen, aber niemals mehr zu ihm gelangen konnte. Smirn hatte recht, der Tod war groß. Selbst wenn er ein weinender Mann mit gebrochenen Beinen war, war er dennoch groß.
Kersted legte die Faust aufs Herz. Neben ihm kam Fander auf die Füße und tat es dem Offizier gleich. Nendsing sah zu ihnen auf, verständnislos. Natürlich, denn sie kam aus der Stadt, in der alles möglich war, in der man alles haben konnte, wenn man nur dafür bezahlte. Die beiden großen, schwarz gerüsteten Männer aber kamen von einem Ort, an dem es nichts gab. An dem man nicht trösten und nicht bedauern durfte. Einem Ort, an dem man das Leben genauso ertragen musste wie das Sterben. Und das Sterben dieses Pramers würden sie nun gemeinsam ertragen.
Es dauerte lange. Der Mann rang mit sich. Er haderte mit seinem Schicksal, weinte, dann brüllte er, schlug den Hinterkopf gegen die Felswand, wieder und wieder. Er saß lange ganz still, schließlich zuckten die Schultern, er lachte, laut und bitter. Er riss sich Brustschutz, Wams und Hemd vom Leib, stöhnte unter der Hitze, stöhnte unter den Schmerzen. Er zog sein Schwert, legte die Klinge an den Hals, dann versuchte er, die Spitze auf den Bauch zu setzen. Seine Arme zitterten, Nendsing verbarg ihr Gesicht in den Händen. Kersted und Fander standen reglos und wandten den Blick nicht ab. Der Soldat brachte es nicht fertig, das Schwert fiel ihm aus den Händen, er weinte wieder. Dann schrie er, wütete gegen die beiden Männer, die nicht weggingen und nicht wegsahen, die lebten und die er dafür hasste und bei denen er doch so sehr sein wollte. Sie waren unerreichbar für ihn – und er war unerreichbar für sie, er war bereits auf der anderen Seite.
Und endlich sah er es ein. Er robbte auf den Ellbogen zur Kante des Vorsprungs. Er sah nicht hinab ins rote Glühen, er schaute das Leben an, lächelte es an. Kersted sah, wie sich das erhitzte, von Tränen und Schweiß verschmierte Gesicht des Soldaten entspannte. Mit diesem letzten Lächeln im Gesicht ließ er sich über die Kante rollen. Kersted senkte das Kinn und schloss die Augen.
Sie hatten sich gerade abgewandt und waren zwei Schritte gegangen, als Nendsing sich auf Kersted stürzte. Sie schlug auf seinen Brustschutz, einmal, zweimal, wie rostige Klingen bohrten sich die Schläge durch Kersteds angeknackste Rippen. Dann hängte sie sich an ihn und schluchzte hemmungslos. Er schloss sie in die Arme. Er durfte nicht trösten? Er dachte nicht daran, er war hier nicht mehr zu Hause in Goradt. Er drückte sie an sich. Er würde hier stehen bleiben und trösten, auch wenn ihm dabei die Luft wegblieb.
5
Der Tod des Pramers stand zwischen ihnen. Den einen Moment der Nähe hatte Nendsing zugelassen, hatte sich nicht gegen den Trost wehren können. Aber nun schien sie ihre Schwäche zu bereuen, trug einen stummen Trotz wie einen Schild vor sich her. Nendsing sagte nichts, aber Kersted ahnte, dass sie eine Heldentat von ihm erwartet hatte. Er hätte das Unmögliche möglich machen müssen, hätte die Kluft überwinden oder umgehen müssen, hätte den Verletzten aus der Tiefe bergen und die gebrochenen Beine heilen müssen. Obwohl Nendsing genau
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