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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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wusste, dass eine Rettung undurchführbar gewesen war, konnte sie den Tod dieses einen Mannes kaum verkraften. Siewar verstört, weil ihr Verstand es einsah, ihr Herz aber nicht. Kersted war klar, dass Nendsing trauerte   – um den einen Soldaten stellvertretend für alle, die hinabgestürzt waren   – und dass sie bisher noch nicht oft getrauert hatte. Er selbst hatte den Tod lange nicht begreifen können, obwohl er wahrlich genug Gelegenheiten dazu gehabt hatte. Es war eben nicht nur eine Sache des Kopfes. Mochte der Verstand auch noch so groß sein, der Tod war größer. Er war so unfassbar groß, dass selbst die kluge Segurin ihn nicht zu packen bekam. Kersted bemerkte Nendsings Zorn darüber. Und weil dieser Zorn herausmusste, bot Kersted sich als Ziel an.
    Er hielt den Steigbügel, sie trat ihm auf die Hand. Er reichte ihr den Wasserbecher, sie gab ihn an Fander weiter. Wenn Kersted Wache hielt, starrten Nendsings große, dunkle Augen in den Nachthimmel   – übernahm Fander, rollte sie sich ein und schlief wie ein Kind.
    Drei Tage war es her, dass die Kluft sich aufgetan hatte. Zwei Pferde waren ihnen geblieben. Utate ritt auf ihrem Grauschimmel   – in Gedanken versunken und nicht ansprechbar. Kersteds rotbraune Stute trug Nendsing und den Koch, der sich zwar gut von seinen Verletzungen erholte, aber nicht lange marschieren konnte. Das taten die Welsen; Kersted und Fander liefen voraus, die Pferde trotteten hinterdrein. Sie kamen nur langsam voran, der große, todbringende Riss war nicht die einzige Wunde, die das Land der Steppenläufer zeichnete. Immer wieder mussten sie lange Umwege gehen, wenn eine Spalte ihre Wegrichtung kreuzte.
    »Die laufen alle von Nord nach Süd«, sagte Fander, als sie einmal mehr an der Kante einer tiefen Senke entlanggingen. Dieser Einschnitt war zwar nicht so brutal wie die Kluft, in die die pramschen Soldaten gestürzt waren   – ein Hindernis aber bot er dennoch.
    »Es ist, als ob uns das Land daran hindern wollte, westwärts zu gelangen«, sagte Kersted. Die Stimme des Kameraden und auch sein eigenes Sprechen wurden nur noch durch einen leisen, befremdlichen Hintergrundklang gestört   – als ob jemand mit feuchten Fingern über den Rand eines Glases strich, unaufhörlich.
    »Oder einer unter dem Land.«
    »Was?«
    »Ach, nichts, Herr Offizier. War nur so ein Gedanke.«
    »Lass hören.«
    Es war Fander ganz offensichtlich unangenehm, aber Kersted war jede noch so belanglose oder unsinnige Unterhaltung lieber als das allgemeine Schweigen, das die geschrumpfte Reisegruppe umfing und in dem sich der feine Ton im Ohr wie in einem Hohlraum zu verstärken schien.
    »Es ist wirklich ein dummer Gedanke«, begann Fander schließlich wieder, »aber als das Land aufriss, als diese glühende Spalte sich auftat, da hatte ich die Idee, dass da unten, unter uns, unter all der Erde und dem Stein … jemand sitzt. Wie ein Gefangener   – also ein sehr großer und sehr wütender Gefangener. Und der reißt nun alles entzwei. Den ganzen Kontinent.« Er lachte verlegen auf. »Verzeiht, aber wenn ich was nicht verstehe, dann kommen mir seltsame Gedanken in den Kopf. War immer schon so.«
6
    »Er hat recht.«
    Kersted hätte beinahe das Brennholz fallen lassen, als Nendsing ihn ansprach. Ihr Blick war offen und direkt. Kersted vergaß sofort, dass sie ihn drei Tage lang mit stummer Wut gestraft hatte.
    »Wer hat recht? Womit?«
    »Leg das weg und komm mit.«
    Sie fasste nach seiner Hand und zog ihn die spärlich bewaldete Anhöhe hinauf. Fürs Nachtlager suchten sie seit dem Beben immer irgendeinen Hügel, und obwohl es nur eine eingebildete Sicherheit war, so beruhigte es dennoch, sich über das zerrissene Land zu erheben. Oben angelangt, legte Nendsing den Kopf in den Nacken und schaute in den Himmel. Kersted sah den lang gestreckten Hals und das fein geschnittene Profil der Segurin. Ihre Lippen waren geöffnet.
    »Was siehst du?«, fragte sie. Dich , wollte Kersted sagen, besann sich aber noch rechtzeitig.
    »Sterne«, sagte er und blickte auf. Ja, ein paar waren schon da, glücklicherweise, und sprenkelten den klaren Abendhimmel. Sterne, natürlich, das war es, was Nendsing interessierte. Sollte sie ruhig über Sterne reden, Hauptsache, sie redete überhaupt mit ihm.
    »Sie hat ihn so geliebt«, sagte Nendsing, immer noch in den Himmel blickend. Unterbrich niemals eine Frau, ermahnte sich Kersted in Gedanken, erst recht nicht, wenn sie von Liebe spricht. Er hatte gute Erfahrungen

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