Zwölf Wasser
etwas angeht. Der keine Fragen stellt – wozu auch, er hat ja ein Schwert, das wird die Probleme schon lösen, wenn es drauf ankommt. Bis dahin: Nur nicht denken, immer schön weitermarschieren, Welse!«
Kersted blieb stehen. Nendsings Wangen hatten sich gerötet, in ihrem Gesicht zuckte es. Sie wollte noch etwas sagen, presste dann aber die Lippen zusammen und trat dem Pferd in die Flanken. Es setzte sich gemächlich in Trab; die kleine, leichte Reiterin konnte es nicht wirklich beeindrucken.
Den Offizier aber schon. Kersted versuchte, das Pfeifen im Ohr zu überhören und das zu verstehen, was aus Nendsing herausgestürmt war. Es fiel ihm schwer. Sonst hatte er die Frauen immer gut verstanden, er hatte die Untertöne gehört. Hatte sehr genau gewusst, wann ein Nein ein Nein war und wann ein Gib dir mehr Mühe mitschwang. Aber nun war er taub für die Untertöne geworden, weil ein Missklang in seinem Ohr war.
»Oh, oh, Segurinnen …« Der Koch war zu Kersted gekommen und wackelte mit dem Kopf, was gleichzeitig anerkennend und warnend gemeint war. Kersted setzte sich wieder in Bewegung.
»Wie sieht’s aus mit Verpflegung?«, fragte er knapp.
Glaron lief neben ihm her, eines seiner kleinen Bücher in der Hand.
»Gar nicht so schlecht! Dies hier habe ich gefunden, und auch diese Wurzeln – in Pram eine Delikatesse!«
Kersted warf einen Blick auf das Buch. Teilweise farbige Zeichnungen von Pflanzen und Pflanzenteilen wurden gerahmt von Notizen in einer zierlichen, sauberen Handschrift.
»Glaron, wo hast du so gut Welsisch gelernt?«
»Ach«, machte Glaron und lächelte verlegen, »so nebenher. Im Hause meiner Herrin gibt es viele Bücher … Was ist denn los?«
Die Vorausgehenden waren stehen geblieben. Fander machte ein Zeichen, Kersted lief los und hatte Glaron schon nach drei Schritten abgehängt.
Der Ausblick ließ Kersted tief Luft holen: Sanft neigte sich die Steppe, die sie durchwandert hatten, hinab in eine von einem Strom durchzogene fruchtbare Ebene. Aber der Fluss war kein langes Band, in Schleifen ins Tiefland gelegt, sondern erinnerte an eine große, zerrupfte Feder: Furchen liefen schräg durchs Flussbett und hatten sich mit trübem Wasser gefüllt. Die Ufer, noch vor Kurzem seicht und saftig grün, waren aufgeworfen, zerwühlt, schlammig. Als sei eine riesenhafte Forke kreuz und quer über die liebliche Auenlandschaft gefahren.
Wie alle Undae neigte Utate nicht zu Gefühlsausbrüchen. »Wir haben den Naryn erreicht«, sagte sie nur.
Aber Kersted kannte den Ausdruck auf ihrem Gesicht, er hatte ihn oft gesehen. Zuletzt bei einer Frau, der er die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbringen musste. Kersted konnte in Utates Blick auf den zerrissenen Fluss lesen, dass etwas Unersetzliches verloren gegangen war.
Bei der Weißen Brücke,
Weslan im Solder 107 tergde
Gelehrter Freund –
zwei Zehnen hat es nun gedauert, durch das Stadtland von Agen und bis zur Brücke über die Linrade zu gelangen; meine Befürchtungen haben sich bewahrheitet und sind sogar übertroffen worden – stellt Euch vor, sie haben nun auch die Brücke gesperrt! Aber der Reihe nach:
Ich schrieb Euch, dass Agen die Tore geschlossen hat und vor dem Hochtal ein Lager derer entstanden ist, die warten wollen, die auf eine Veränderung der Lage oder eine Ausnahmegenehmigung hoffen – dazu gehörte auch ich einige Tage lang –, und solchen, die schlicht nicht wissen, wohin sonst. Schon vor der Stadt ist also das Durcheinander groß, aber man wagt sich kaum auszumalen, was darinnen vor sich geht.
Nun, ich weiß ja, dass Ihr nie hier unten im Süden wart (und auch niemals die Bibliothek von Agen gesehen habt, wiewohl das Euer größter Wunsch ist, verständlicherweise). Ich will Euch deshalb in aller Kürze beschreiben, was die Situation hier so besorgniserregend macht.
Vom großen Mündungsdelta des Eldrons steigt nach Westen hin das fruchtbare, weite Stadtland von Agen in vielen sanften Stufen bis fast auf die Höhe der Stadt an. Agen selbst liegt geborgen zwischen zwei Seen – es ist in der Tat wunderschön und doppelt so herrlich wie Eure Heimatstadt, mein Freund – immerhin hat Pram nur einen See! Verzeiht mir den dummen Scherz, meine Nerven gehen mit mir durch … Beide Seen nun sind umgeben von Bergen. Bei Weitem nicht die höchsten des Kontinents, aber hoch genug, um die Stadt vor jedem schlechten Wetter zu schützen, das vom Meer heraufziehen könnte. Und auch vor einem Angriff, aber
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