Zwölf Wasser
das nur nebenbei. Von Westen können also weder Wind noch Feind die Stadt überraschen, von Süden und Norden schützen die Seen Agen. Bleibt also nur der östliche Zugang. Und der ist nun verschlossen. Der eigentlichen Stadt weit vorgelagert gibt es dort eine hohe Mauer, die von Seeufer zu Seeufer verläuft und die Stadt sehr wirksam abriegelt. Sie wird streng bewacht, genau wie die Ufer. Von der Mauer aus hat man den allerbesten Überblick über das viele Wegstunden zum Eldron hin abfallende Stadtland. Und so ist Agen, das sich rühmt, die zivilisierteste und friedvollste Ansiedlung von Menschen auf dem gesamten Kontinent zu sein – von hier ist noch niemals ein Krieg ausgegangen –, in Wahrheit eine Festung. Eine Festung, die dieser Tage vom eignen Volk belagert wird. Familien wurden getrennt, der Handel ist völlig zum Erliegen gekommen. Die Bauern, die das Stadtland bewirtschaften, wissen nicht, wohin mit der Ernte, immerhin neigt sich der Lendern dem Ende zu, dies ist die Zeit für Geschäfte. Und in Agen selbst muss ja bald der Mangel Einzug halten! Das ist doch ungeheuerlich! Könnt Ihr Euch denken, was geschähe, wenn man Pram von der Außenwelt abschlösse?
Das alles ist aber immer noch nicht das Besorgniserregende, das ich eingangs meinte. Darauf kam ich erst, als ich hier an der Weißen Brücke über die Linrade abermals eine erzwungene Rast einlegen musste. Sie haben die Brücke nämlich nur in eine Richtung vollständig gesperrt – und zwar in meiner! Reisende von Norden dürfen nach allerstrengsten Kontrollen passieren (ich habe mir von demütigenden Leibesvisitationen berichten lassen), aber von Süden, von Agen kommend, lassen sie einen für kein Geld der Welt hinüber. (Sie haben Söldner angestellt, finstere Gestalten aus den Bergen von Nirwen; jeder Versuch, mit ihnen ein Gespräch anzufangen, ist zwecklos.) Was hat das nun zu bedeuten? Wilde Gerüchte sind im Umlauf, aber ich bringe Euch hier und jetzt die Wahrheit zu Papier:
Es bedeutet, dass es nicht darum geht, niemanden einzulassen in die Hauptstadt Seguriens. Sondern darum, etwas aus Agen nicht hinauszulassen! Das, mein Freund, bereitet mir größte Sorge: Etwas soll in Agen gefangen bleiben. Aber was um alles in der Welt könnte das sein?
Auch diesen Brief schicke ich mir voraus; ich kann nur hoffen, dass er schneller nordwärts reist als ich. Zwar habe ich möglicherweise jemanden aufgetan, der mir nach Gaspen weiterhelfen kann, aber wer weiß …
In der Hoffnung, Euch bald vom heimischen Schreibtisch aus in Ruhe berichten zu können, verbleibe ich in alter Freundschaft – Euer ergebener
Helgend von Gaspen
Ob mein erster Brief verloren ist? Nun, es ist vielleicht nicht schade darum, er war wenig informativ, sondern eher von Empörung veranlasst, die ich teilen musste. Diesen hier zu senden kostet nun mich ein kleines Vermögen (einen Tessel und zwanzig Sedra), aber ich hoffe, Ihr wisst es zu schätzen, unter welch widrigen Umständen ich versuche, für Euch Erkundigungen einzuholen. Ach, ich weiß es: Ihr seid ein großzügiger Mann und werdet mir beizeiten alle meine Mühen entlohnen. Was mich viel mehr beschäftigt als meine Börse ist folgende Frage: Stehen Eure Vermutungen und meine Schwierigkeiten in einem Zusammenhang?
DREI
GLOBA UND NARYN
1
»Sind das Wolken oder ist das Rauch, dort über den Gipfeln?« Marken konnte es nicht entscheiden, seine Sehkraft war eingeschränkt.
»Es ist Rauch«, antwortete Smirn.
»Aber was soll dort brennen? Dort ist nur Stein, oder nicht?«
Er hatte mehr genuschelt als gesprochen, seine linke Gesichtshälfte wollte sich kaum bewegen und so war das Sprechen beinahe noch schwieriger als das Sehen.
»Dann wird es der Stein sein, der brennt«, sagte Smirn und beschleunigte ihre Schritte. Sie ging im schmalen, felsigen Flussbett der Globa bergan. Seit sie den Fluss erreicht hatten, schien Smirn wie von neuer Kraft durchströmt. Sie war unermüdlich und Marken hatte den Eindruck, sie hätte auch die Nächte hindurch gehen können. Aber als er ihr vor einigen Tagen mit geschwollener, schwerer Zunge zu verstehen gegeben hatte, sie solle ihn besser zurücklassen, war Smirn stehen geblieben und hatte ihn mit dieser Strenge angeschaut, hinter der nur derjenige Güte sehen konnte, der die Art dieser Undagewohnt war. Oder der halb blind war und deshalb deuten musste.
Marken hatte nicht bemerkt, wie schwer ihn das kochende schwarze Blut der Dhurmmets verletzt hatte. Er hatte nur
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