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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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Kersteds Komplimente waren immer aufrichtig, immer fand er etwas, das er bewundern konnte: ein zartes Handgelenk, einen geschwungenen Nasenrücken, eine weiche, warme Stimme. Er sah nicht nur über fehlende Zähne, stumpfe Haare oder hängende Brüste hinweg   – er bemerkte all dies nicht einmal. Er hatte die Begabung, das Schöne und Liebenswerte zu sehen und für den Rest blind zu werden. Das gefiel den Frauen. Aber nur eine Zeit lang. Irgendwann kam der Moment, an dem sie unzufrieden wurden, weil sie ganz geliebt werden wollten. Mit den Schwächen, den Fehlern oder sogar gerade deswegen. Eine Forderung, die Kersted nicht nachvollziehen konnte. Er schwieg dazu. Das war bisher immer das Ende gewesen. Meist unter Tränen, aber dennoch entschlossen hatte ihn noch jede Liebste irgendwann weggeschickt.
    Die Vorstellung von einem Ende zwischen Nendsing und ihm war umso beängstigender, als es noch nicht einmal einen rechten Anfang gegeben hatte. Was, wenn er sie wirklich wegschicken müsste, um mit Utate zur Quelle des Naryns aufzusteigen? Unwillkürlich drückte er sie fester an sich. Nendsing atmete einmal tief ein, wachte aber nicht auf. Zwischen dem schwarzen Laub des Baums sah Kersted die Sterne aufblitzen. Etwas in die Bilder hineinzudenken, die sie an den Himmel zeichneten, war auch bei den Welsen üblich. Kersted konnte sich nicht an Einzelheiten erinnern, aber er war sicher, dass keine einzige dieser Sternengeschichten von einem Dämon erzählte. Von einem Dämon, der im Feuer der Erde hauste, hatte er auch noch niemals gehört. Die eigene Unwissenheit zu bemerken war ernüchternd. Viel zu wissen und den eigenen Irrtum zu bemerken musste noch bitterer sein.
7
    Kersted war schon beim ersten Ruf hellwach, aber bis er auf den Beinen war, hatte Fander ihn bereits das dritte Mal gerufen. Nendsing blinzelte ins Aschgrau des beginnenden Tags, die Haare gesträubt wie das Gefieder eines jungen Vogels, und murmelte etwas in ihrer Muttersprache. Kersted griff sein Schwert und rannte.
    Fander stand bis zur Hüfte im Fluss und hielt die leblose Utate in den Armen. Kersted stürzte ihm entgegen.
    »Sie ist in sich zusammengesunken.« Fanders graue Augen waren weit aufgerissen. »Einfach so. Ohne Laut. Ohne Vorwarnung.«
    Ihre Lider waren geschlossen, der Mund leicht geöffnet. Die Narbenranken auf dem Kopf und im Gesicht waren verblasst und kaum zu erkennen. Besorgt wischte Kersted der Unda über die mit Wasser benetzte Stirn. Utate sah nicht wie eine Ohnmächtige aus. Sie sah aus, als wäre sie erloschen.
    Glaron trat von einem Bein aufs andere und knetete seine sehnigen Hände. Nendsing hatte sich so fest in ihr Tuch gewickelt, dass sie aussah wie ein Strich. Ein schmaler, grauer Strich vor stumpfgrauem Himmel   – noch war die Sonne nicht aufgegangen. Utate lag regungslos im taunassen Gras; Kersted kniete neben ihr. In ihm tobte es. Was tun? Niemals hätte er zulassen dürfen, dass sie die ganze Nacht im Fluss verbrachte. Nicht nachdem es sie bereits über Tag so aufgewühlt hatte.
    Ohne Utate ging es nicht weiter. Alles hing von den Hohen Frauen ab, sogar die Hoffnung, das spürte Kersted nun. Alles, was er Nendsing gesagt hatte, war nur gültig mit Utate. Kersted hatte geglaubt, den Tod endlich begriffen zu haben. Seinem eigenen Tod war er zwar ein ganzes Stück näher gekommen. Aber dass er lebte, während Utate starb   – einfach so, ohne Laut, ohne Vorwarnung, wie Fander gesagt hatte   –, diese Möglichkeit hatte er nicht bedacht. Nein, es durfte nicht sein. Sie war nicht tot, sie war … verloschen. Aber war das nicht dasselbe? Kersteds Hand fand von selbst den kleinen Lederbeutel um seinen Hals. Der Hüter Torvik hatte das Wasser darin aus seiner Quelle genommen, und wieder war es die sonst so schweigsame Smirn gewesen, die mit rauer Stimme einen Satz gesprochen hatte, der Kersted im Gedächtnis haften geblieben war: Falls ihr aber doch einmal nah dran seid aufzugeben, dann trinkt.
    Kersted schauderte. Er packte den Beutel, wollte ihn sich vom Hals reißen.
    Jählings, mit einem kehligen Schrei, vergleichbar dem tiefen ersten Atemzug eines durch die Wasseroberfläche brechenden Ertrinkenden, fuhr Utate hoch. Erschrocken sprang Kersted auf. Kerzengerade saß sie da, mit leerem Blick. Was war denn geschehen, war sie zurück? Ein zweiter Schrei, fern, hoch und lang gezogen, antwortete ihr wie ein Himmelsecho.
    Utate erhob sich langsam und es war, als ob das zarte Violett des nahen Sonnenaufgangs die Linien

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