Zwölf Wasser
ein Abbild des Naryns: schlammbedeckt, undeutlich vor sich hin murmelnd und so fahrig, wie der Flusslauf zerrissen war. Sie benimmt sich wie eine, die den Verstand verloren hat, dachte Kersted. Er konnte den Anblick nicht ertragen.
»Utate? Ich bitte dich, sag doch –«
»Sie war noch nicht da«, unterbrach sie ihn und hob in einer hilflosen Geste die Schultern. »Sie war nicht da. Sie war nicht da.«
»Wer denn? Und wo?«
»Smirn! Bei der Quelle!« Utate griff mit beiden Händen ins Wasser, als wolle sie darin graben. Das war zu viel. Kersted packte die Unda unter den Achseln und zog sie mit sich. Siestrampelte mit den Beinen wie ein zorniges Kind, leistete aber ansonsten keine Gegenwehr. Er ließ sie los, sobald sie am Ufer waren. Utate sank ins Gras. Auch das konnte Kersted kaum mit ansehen – die schöne Unda, die niemals ruhte, die niemals die Fassung verlor, saß verdreckt und betrübt am Boden. Er wandte sich ab, ging ein paar Schritte und rieb sich seine kalten Arme.
»Ich danke dir, Kersted.«
Er drehte sich um, sie war wieder auf den Beinen. Utates Blick war zwar ernst, aber es war wieder ihrer.
»Dem Naryn zu lauschen ist … schmerzhaft.« Sie begann, auf und ab zu gehen, und schaute dabei zum Wasser hin. »Jeder Fluss hat ein eigenes Wesen. Manche sind flink und wollen immer nur weiter, schwellen an bei jedem Regenguss oder zur Schneeschmelze, nehmen alles mit sich und schleppen es fort. Andere sind bedächtiger. Manche vereinen verschiedene Wesenszüge über ihre gesamte Länge – aber dennoch ist jeder Fluss einzigartig. Jeder hat seine eigene, besondere Stimme. Der Vergleich hinkt etwas, aber stelle es dir so vor: Der Naryn war wie ein Mann im besten Alter – die stürmische Jugendzeit lag hinter ihm, aber an sein Ende musste er noch keinen Gedanken verschwenden. Er hatte seinen Platz gefunden und ruhte in sich. Dieser Fluss trat nicht übermäßig über seine Ufer und bildete keine Seitenarme. Auf seinem Weg zum Meer verbreitert sich der Naryn nur ein Mal zu einem See, dessen seichte Ufer vielen Vögeln Brutstätten bieten. Das Wesen des Naryns war liebevolle Gelassenheit.«
In Anbetracht der Verwüstung ringsum musste sich das Wesen des Flusses sehr verändert haben. Dass immer noch Reste der einstigen Schönheit dieser Flussaue übrig waren, machte es nicht besser. Während Utate im Wasser war, hatten sie auf einem Uferstück gelagert, auf dem zwei große alte Bäume zwischen kniehohen, blühenden Gräsern standen. Es war eine duftende Insel im Schlamm. Die einzigen Lebewesen, denen das in den vielen Furchen stehende Wasser ringsum willkommen war, waren Stechmücken.
Utate schloss kurz die Augen. Dann lächelte sie schwach und strebte wieder dem Wasser zu.
»Was tust du da?«
Kersted folgte ihr. Hindern könnte er sie nicht, das stand ihm nicht zu. Schon mit dem Herauszerren eben hatte er die Grenze seiner Befugnisse überschritten. Aber was auch immer dieses heimatlos gewordene Wasser zu erzählen hatte – es quälte Utate.
Sie sah Kersteds Bedrängnis und hob beschwichtigend eine Hand. »Mach dir keine Gedanken, Pfadmeister, ich weiß, was ich mir zumuten kann. Aber ich muss herausfinden, ob ich etwas überhört oder falsch verstanden habe … alles ist so undeutlich, so verworren … Smirn war noch nicht bei der Quelle – das habe ich verstanden, aber ich will es nicht glauben. Kersted, sie hätte längst bei der Quelle des Naryns angelangt sein müssen. Sie wollte erst zur Quelle der Globa und dann zu der dieses Flusses; sie liegen nah beieinander. Es ist immens wichtig, diese Quelle aufzusuchen.«
»Du glaubst doch nicht, dass … ihr etwas zugestoßen ist?« Nein, unmöglich, Marken war bei Smirn, Marken war erfahren, war stark, ihr konnte nichts passiert sein. Dass seine eigene Reisegruppe zum Großteil von der Erde verschluckt worden war und niemand, nicht einmal Marken oder Felt, das hätte verhindern können, verdrängte Kersted.
»Sie lebt, dessen bin ich sicher«, sagte Utate nachdenklich. »Aber etwas hindert sie daran, zu dieser Quelle zu kommen. Kersted, die Quelle des Naryns ist eine der Großen Drei, und keine dieser drei Quellen darf versiegen. Sonst ist alles vergebens. Weit oben in den Bergen, an der Grenze zu Kwothien,entspringt die Quelle der Liebe. Wenn Smirn sie nicht erreicht, müssen wir es versuchen.«
»Du meinst, wir gehen zurück?«
»Nun, wir würden dem Naryn flussaufwärts folgen. Es wäre sehr beschwerlich, auf diese Art zur
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