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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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auf ihrer Haut wieder aufleuchten ließ. Kersted wagte nicht, sie anzusprechen. Er wagte kaum zu atmen. Utates eben noch leere Augen füllten sich ganz allmählich mit der ihnen eigenen Strahlkraft, und als sie an den Himmel sah, folgte Kersted ihrem Blick.
    Ein Vogel bewegte sich auf die Menschen zu. Er kam schnell näher, die kräftigen Schwingen peitschten die stille Luft. Es waren große Schwingen; die größten, die Kersted je gesehen hatte. Der Vogel kreiste über ihnen, stieß wieder den hohen, langen Ruf aus und es war Kersted, als ob dieser Klang seine Seele zum Schwingen brachte.
    »Was ist … das?«, stammelte er.
    »Ich kann es nicht glauben.« Staunen ließ Nendsings Stimme beben. »Das ist doch ein Mythos!«
    »Ja«, sagte Utate. »Das ist ein Mythos.« Alle nach oben gerichteten Blicke fielen auf sie. Ihre Stimme war klar wie eh und je und nichts in ihrem ebenmäßigen Gesicht deutete auf die furchtbare Schwäche hin, die sie vor wenigen Augenblicken niedergestreckt hatte. Ob sie selbst den Zusammenbruch überhaupt bemerkt hatte? Nun jedenfalls legte sie den Kopf in den Nacken und wiederholte: »Das ist ein Mythos   – eine Szasla. Fliegen sie also wieder.«
    Der mächtige Raubvogel drehte eine elegante Schleife und sank so tief herab, dass Kersted deutlich das braun gesprenkelte Brustgefieder und die gelben Klauenfüße sehen konnte. Sie waren so groß wie seine eigenen Fäuste.
    »Szasla?«, fragte er, bekam aber keine Antwort. Alle blickten unverwandt auf das beeindruckende Flugwesen, das seinerseits sie genau in Augenschein zu nehmen schien. Einige schnelle Flügelschläge genügten, der Vogel gewann wieder Höhe und entfernte sich schließlich in der Richtung, aus der er gekommen war   – südwärts, über den Fluss hinweg.
    Utate sah ihm nach.
    Kersted machte einen Schritt auf sie zu.
    »Du hast uns zu Tode erschreckt. Was war mit dir? Und wie geht es –«
    »Nendsing«, unterbrach ihn Utate brüsk, »kannst du den Falken noch sehen?«
    Die Segurin trat neben sie. »Ja. Er kreist jetzt.«
    Kersted starrte über den Fluss, der früher eine Grenzlinie zu Kwothien gewesen war und nun mit seinen zerfurchten Ufern eher einem breiten Sumpfstreifen glich. Er sah das Violett des Himmels blauer werden und links von ihm, ostwärts, griffen die ersten Strahlen der Sonne über das dort ansteigende Land.Sonst sah er nichts, nicht einmal einen Punkt. Er kniff die Augen zusammen. Nichts.
    »Er ist gelandet, glaube ich«, sagte Nendsing und machte ein paar Schritte zum Wasser hin. Sie schien alles um sich herum vergessen zu haben, war ganz Sehen geworden. Kersted konnte sich gut vorstellen, wie Nendsing Nacht für Nacht die Sterne angestarrt hatte.
    »Da! Jetzt ist er wieder am Himmel!« Sie drehte sich zu Utate um, ihre dunklen Augen glänzten vor Aufregung. »Eine Szasla, ich kann es immer noch nicht glauben.«
    »Geschöpfe aus der Alten Zeit«, raunte Glaron Kersted zu. Ärgerlich winkte der ab   – er wollte sich jetzt nicht von dem Koch belehren lassen. Schlimm genug, dass anscheinend wieder alle Bescheid wussten, nur er nicht. Das erste Mal in seinem Leben bedauerte Kersted zutiefst, dass er Welse war. Er ging ebenfalls zum Saum des Wassers, blickte südwärts und sagte: »Ich glaube, ich sehe auch etwas.«
    »Das stimmt!«, rief Nendsing aus. Kersted verzog keine Miene. Einige Augenblicke herrschte angespanntes Schweigen, dann sagte Nendsing: »Eine Gruppe Reiter. Soweit ich sehe, sind sie gerüstet. Zehn, nein, dreizehn Mann. Dazu einer zu Fuß. Ja, tatsächlich, er ist zu Fuß.«
    Sie sah zu Kersted auf, wandte sich dann den anderen zu.
    »Sie kommen in unsere Richtung.«
8
    Marken fiel nichts anderes ein, als mit Smirn ins Wasser zu steigen   – das war es doch, das ihr Kraft gab, oder? Er hoffte es. Er stand im weiß rauschenden Wasser der Globa und hielt die leblose Unda in den Armen. Die Eiseskälte des Wassers machte seine Arme und Beine gefühllos, aber Marken war es gleich, sollten ihm seine Gliedmaßen doch abfallen. Ohne Smirn gab es keine Verwendung mehr für ihn. Was sollte er denn tun, wenn sie nicht mehr erwachte? Wenn sie … starb? Er war vollkommen abhängig von ihr. Sie alle waren abhängig von den Undae. Alles menschliche Leben gründete auf den Hohen Frauen, den Zwölf Wassern und ihren Hütern. Von denen eine gerade in den Tod gegangen war. Endlich waren sie zur ersten Quelle gelangt. Und waren zu spät gewesen. Verzweiflung griff mit knochigen Fingern nach Marken und

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