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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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seinem Zimmer und schlüpfte ins Bett der Mutter. Ristra war es nicht gewohnt, allein zu schlafen; und ein eigenes Zimmer zu haben wäre früher vollkommen undenkbar gewesen. Hier aber, in Pram, war alles anders. Hier war alles groß, weit und lebendig. Es war so warm, dass man das Fenster sogar nachts öffnen konnte. Man konnte auch allein in einem Bett liegen, in einem eigenen Zimmer, und musste keine Angst haben, ohne die Wärme eines anderen Menschen im Schlaf zu erfrieren. Dennoch war Ristra bisher jede Nacht gekommen und hatte sich neben Estrid eingerollt, Fußsohlen und Rücken gegen den Körper der Mutter gedrückt. Heute kam sie nicht. Estrid stand auf.
    Auf dem hohen, hölzernen Kopfteil saß der Dayak und spielte mit der flauschigen Spitze seines langen Schwanzes. Als Estrid ans Bett trat, sah er sie an und witterte kurz. Seine großen runden Augen glommen im Dunkeln, als habe jemand Kerzen hineingestellt. Ristra hing mit der ganzen Kraft ihres kindlichen Herzens an dem kleinen Pelztier. Der Dayak schien diese Liebe zu erwidern   – seit jenem Morgen in der Lagerstadt, als Belendra ihn Ristra geschenkt hatte, war er dem Mädchen nicht mehr von der Seite gewichen.
    »Hast du also deine eigene Wache gefunden?«, fragte Estrid leise und strich ihrer Tochter eine Locke aus dem Gesicht. Wie weich und glänzend Ristras Haar geworden war, genau wie ihr eigenes. Das Essen war ein tägliches Fest und Belendra ließ auch außerhalb der Mahlzeiten immer Leckereien bereitstellen; Estrid hatte ihre Eckigkeit fast völlig verloren. Die Hausherrin verlangte aber nicht nur, dass Estrid tüchtig aß, sie musste auch ebenso viel Zeit und Mühe in ihre Körperpflege und die ihrer Kinder stecken wie Belendra selbst. Bisher war es Estrid vor allem darum gegangen, ihren Körper überhaupt zu erhalten   – also nicht zu verhungern und weder Zehen, Finger oder die Nasenspitze an den Frost zu verlieren. Einen Körper derart zu verwöhnen, zu baden, zu salben, Haare zu bürsten, zu ölen und zu flechten, das war ihr anfangs beinahe unanständig vorgekommen. Dann bemerkte sie, wie rosig und rund RistrasWangen wurden und wie sehr Strem sich streckte, wie selten er weinte. Die Kinder gediehen unter Belendras Fürsorge wie Pflanzen, die endlich in die richtige Erde gesenkt worden waren. Und nun hatte Ristra sogar so viel Zutrauen in ihr neues Leben gefasst, dass sie allein schlief.
    Estrid schob ein nacktes Kinderbein unter die seidige Bettdecke und setzte sich auf die Kante. Alles war gut. Alles war besser, als sie zu hoffen gewagt hatte. Sie streckte den Arm aus und hielt dem Dayak ihren Zeigefinger hin. Wie ein Kleinkind griff er sofort danach, um spielerisch darauf herumzubeißen. Die kleinen spitzen Zähnchen pieksten.
    »Ich vermisse ihn so sehr«, sagte Estrid leise. Tränen stiegen ihr in die Augen, sie wackelte mit dem Finger, um das Tier zu verleiten, dass es fester zubiss. Stattdessen ließ der Dayak los, schaute Estrid mit seinen Laternenaugen an und gähnte dann herzhaft. Sie musste lächeln, wischte sich die Tränen ab. Mit einem Seufzen erhob sie sich   – und erschrak. In der dunklen Türöffnung stand Belendra. Mit aufgelösten schwarzen Haaren und in ihrem knöchellangen Nachtgewand sah sie aus wie eine Botin aus der anderen Welt.
2
    Es war nicht das erste Mal, dass sie sich nachts begegneten. Belendra war süchtig nach Weißglanz und die Droge raubte ihr den Schlaf. Sie geisterte oft bis zum Morgengrauen durch die Flure und Zimmerfluchten oder ging im nächtlichen Garten umher. Außerdem sah sie jede Nacht mehrmals nach Strem. Er hatte ebenfalls sein eigenes Zimmer und war wohl der Einzige in diesem Haus, der, kaum dass man ihn ins Bettchen gelegt hatte, immer dort blieb und bis zum Morgen selig schlummerte.
    Sie waren in schweigendem Einverständnis in die Küche gegangen und einer ihrer Knaben war Belendra verschlafen hinterhergetrottet. Nun lag er gleichmäßig atmend auf der Bank, den Kopf in ihren Schoß gebettet. Belendra kraulte ihm gedankenverloren den Nacken, während Estrid Wasser heiß machte. Wie in den Badezimmern auch, kam das Wasser in der Küche einfach aus der Wand; man musste nur ein Rad aufdrehen, schon strömte es aus dem Rohr. Für Estrid war das nach wie vor ein Wunder. Der Aufguss aber, den sie sich bereitete, war jedes Mal aufs Neue eine Enttäuschung. Es gab alles auf dem Markt in Pram, was der Kontinent zu bieten hatte. Nur die richtige Kräutermischung für Ganse war nicht zu

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