Zwölf Wasser
glutäugig und durch und durch böse sein; hierbei wiederum könnte es sich allerdings auch um der Angst geschuldete Ausschmückungen handeln. Eine traurige Wahrheit dagegen sind die vielen Brände. Bei meiner Reise durchs Stadtland sah ich ein paar, aber es sollen nun viel mehr geworden sein – Hof um Hof wurde letzthin Opfer von Flammen. Das könnte man auch für eine Folge des heißen Lenderns halten, natürlich – aber warum brennt es bald durchgehend in Agen? Denn das tut es angeblich, die Stadt steht in Flammen, erzählt man. Dabei liegt sie zwischen zwei großen Seen! Es gibt Wasser im Überfluss, das in Kanälen durch das gesamte Stadtgebiet geleitet wird. Viele dieser künstlichen Wasserwege sind breit und tief genug, dass man sie mit Booten befahren kann. Nein, Brände waren niemals ein Problem in Agen. Ich muss gestehen: Ich selbst habe es nicht brennen sehen, als ich dort war und versuchte, eingelassen zu werden.
Nun aber habe ich von einer alten Frau meiner Reisegruppe erfahren, dass auch dort ein Feuer lodert. Ein ganz besonders furchtbares. Sie behauptet, der Erdboden habe sich aufgetan in Agen. Was da nachts ein so unheimlich rotes Licht gegen die Flanken der Berge werfe und sich im Wasser der Seen spiegele, sei kein gewöhnlicher Brand. Sondern ein Feuerschein aus den Tiefen der Erde selbst. Das habe sie erfahren von einem der Letzten, der aus der Stadt hinausgekommen ist.
Das alles ist nur Hörensagen, zugegeben, und als Männer der Wissenschaft sollten wir beide nicht zu viel darauf geben. Nun, ich habe es nicht getan und deshalb bis jetzt auch nichts davon aufgeschrieben. Die Leute machen aus einem Funken eine Feuersbrunst; wenn man immer glauben wollte, was so geredet wird, man könnte sich gleich selbst anzünden. Aber heute – und deshalb schreibe ich – hat es mir buchstäblich den Boden unter den Füßen verschoben. Wir waren unter freiem Himmel, so konnte kein Haus auf uns stürzen, aber wie mag das in Agen gewesen sein? Wie in Gaspen? Ob das Rütteln bis dorthin spürbar war? Wigo, mein Freund, hier unten im Süden bebt die Erde. Es ist beängstigend. Hier rührt sich ein Schrecken. Asing kehrt zurück – und warum nicht dorthin, wo alles begann?
Ich muss enden; die Fahrt geht weiter und sie ist alles andere als bequem oder vergnüglich.
Voller Unruhe,
Euer ergebener
Helgend von Gaspen
Falls es Euch interessiert: Ich habe mich einer Gruppe angeschlossen, die mit Booten durch die Verlorenen – die Inselgruppe im Delta des Eldrons – zum anderen Ufer reist. Heimlich natürlich, denn es wird alles dafür getan, dass aus Süden nichts in andere Weltgegenden gelangt, das schrieb ich Euch bereits. Nun, wir wollen am Ostufer, am äußersten Rand der Schleierfelder, weiterwandern Richtung Norden, bis wir nach Gaspen übersetzen können. Ich hätte wahrlich nicht geglaubt, auf meine alten Tage eine derartige Unternehmung durchstehen zu müssen! Es wird Firsten sein, bis ich zu Hause bin.
Ach, und falls Euch auch dies interessiert: Die Schöpfungslegende geht, dass einer der Weltengestalter diese Inseln verloren hat, während er mit Hingabe die sanften Stufen des Stadtlands vor Agen formte. Vorgebeugt stand der Gestalter, die Füße im seichten Delta des Eldrons, da sind ihm die Inseln wie Brosamen aus der Manteltasche gefallen. Das würde zumindest dieses fürchterliche Durcheinander erklären; schön ist es hier wahrlich nicht und die Richtung zu behalten ist nicht einfach.
Nun aber muss ich wirklich enden, man wartet auf mich. Seid nochmals aufs Innigste gegrüßt u. auf bald!
VIER
FLAMMEND ROTES HAAR
1
Estrid lauschte auf das Tapsen nackter Füße, aber es blieb aus. Sie lag auf dem Rücken, sah den Nachtwind die weißen Vorhänge bauschen, beobachtete das Spiel von Licht und Dunkel. Vom Garten schien das grüne Glimmen der Leuchtkäfer in den Glaskugeln bis hier hinauf und die Äste der Sträucher und Bäume warfen bizarre Schatten an die Zimmerwände. Estrid hörte einen Vogel rufen. Es war der große gelbe, das wusste sie mittlerweile. Sein Käfig stand unter ihrem Fenster und nachts ging der Vogel seitwärts auf seiner Sitzstange hin und her, nickte mit dem Kopf und rief. Du bist meine Wache , hatte sie gedacht, und von da an hatte das nächtliche Rufen sie nicht mehr gestört. Dass er sie bewachen würde, sie alle, das hatte sie auch Ristra zugeflüstert. Jeden Abend, wenn es ganz still in diesem ohnehin stillen Haus geworden war, kam das Mädchen aus
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