Zwölf Wasser
sehe viele alte Bekannte und ich sage Euch, Estrid: Niemand wird jünger und schöner, ich habe die letzten Soldern nichts verpasst. Ach, übrigens …«, sie richtete sich kerzengerade auf und hob die Stimme. »Wir selbst sitzen am goldenen Tisch. Wie Ihr am wenig höflichen Betragen der Anwesendenerkennen könnt, hat dies nichts mit ihrem eventuellen Wert zu tun. Es sind schlicht die teuersten Plätze. Manche können es sich nur ein Mal im Leben leisten, hier, direkt gegenüber dem Fürsten und somit in seinem Blickfeld zu sitzen. Für einige ist dies gar ein Lebenstraum – verrückt, nicht wahr?«
Sie trank einen kräftigen Schluck Wein und lächelte eisig. Die Tischnachbarn ignorierten sie noch nachdrücklicher als zuvor, aber die Provokation hatte gewirkt: Hände griffen prüfend in Haare, dort wurde am Kragen gezupft, da eine Brosche gerichtet und Gläser wurden zu hastig geleert.
Es war eine kaum wahrnehmbare Veränderung der Luft oder die Intuition, die einen scheinbar grundlos den Kopf wenden lässt – Estrid sah über ihre rechte Schulter. Hinter ihr stand ein Mann. Die kleinen Augen im teigigen Gesicht blickten sie mit einer Mischung aus Abscheu und Fassungslosigkeit an.
»Du bist spät«, hörte sie Belendra sagen.
Nun klappte dem Mann der Mund auf, was sein Doppelkinn erzittern ließ. Das musste Kandor sein. Estrid bemerkte, wie sie den in mehreren Lagen golddurchwebten Stoffs gehüllten Kahlköpfigen anstarrte, und wandte sich schnell ab. An den Anblick von Leibesfülle, den man in Pram bestaunen konnte, hatte sie sich immer noch nicht gewöhnt. Dies war also der Mann, für den die Schmiede, die Kohleschläger und letztlich sie alle am Berg tagein, tagaus schufteten. Estrid hatte das Gefühl, als zöge sich ihr die Haut an Nacken und Hinterkopf zusammen.
»Was ist?«, fragte Belendra ihn spöttisch. »Hast du Angst? Fürchtest du dich, neben einer Welsin zu sitzen? Sei versichert, sie ist unbewaffnet.«
An die atemlos den kleinen Vorfall beobachtenden Gäste am Tisch gewandt, sagte sie: »Wo soll sie auch eine Waffe herhaben, wo Kandor doch alles aufkauft? Man müsste sich vor ihm fürchten!«
Belendra lachte eine Spur zu laut und Estrid sah feine Schweißperlen auf ihrer Oberlippe glänzen. Belendra griff hastig nach ihrem Weinglas, während sich Kandor mit einem Grunzen – wohl einer Begrüßung in die Runde – neben Estrid in seinen Sessel fallen ließ. Er wandte ihr sogleich seinen breiten Rücken zu, versperrte ihr fast völlig die Sicht auf den Fürstentisch. Belendra fasste Estrids Arm, zog sie zu sich und sprach ihr mit heißem, weingeschwängertem Atem ins Ohr: »Oh, ja, das hat sich gelohnt – dieser Blick war Gold wert! Dieses Entsetzen, als er Euch sah! Habt Ihr eine Ahnung, wie viel es gekostet hat, dass Kandor nicht frühzeitig erfährt, wer seine Sitznachbarin ist? Dieser Trosser wird es noch weit bringen. Ach, wen interessiert’s … Schaut und erhebt Euch: Dort kommt Fürst Mendron.«
9
»Auf Euer Wohl!«
Der Fürst hob sein Glas und Estrid tat es ihm nach, trank aber nicht, sondern setzte ihr Glas wieder ab. Sie zitterte so sehr, dass sie den Wein nicht bis an die Lippen brachte. Mendron war so höflich und gab vor, es nicht zu bemerken. Estrid biss die Zähne zusammen und versuchte gleichzeitig ein Lächeln, was misslingen musste. Sie ärgerte sich maßlos über sich selbst und ihr Unvermögen, auch nur ein Wort herauszubringen. Der Trosser hatte sie als Tischgast zu Mendron geführt, was, wie Estrid an Belendras triumphalem Lächeln und dem wutverzerrten Gesicht Kandors erkennen konnte, nicht zu erwarten gewesen war. Nein, an einem Tisch mit dem Fürsten von Pram zu sitzen, in der Mitte eines Festsaals, im Zentrum der Aufmerksamkeit der feinen Gesellschaft der größten Stadt der Welt – das war nichtzu erwarten gewesen. Es war die Gelegenheit, ein Geschenk des Schicksals. Und Estrid schwieg.
»Wie gefällt Euch meine Stadt?« Mendron war ein geübter Gastgeber. »Ich hoffe, Ihr habt keine … Anfeindungen zu erdulden? Diese Zeiten sollten ein für alle Mal vorüber sein.«
Aber sie sind es nicht, denn mein Volk hungert! Das dachte Estrid. Der ganze Saal hatte die Ohren gespitzt. Ihre Antwort war jedoch nur: »Nein.«
»Wie meinen?« Der Fürst lachte. » Nein , Euch gefällt die Stadt nicht, oder nein , Ihr werdet nicht angefeindet?«
»Nein«, sagte sie, den Blick aufs Tischtuch gerichtet, »es ist nicht vorüber.«
Sie sah auf und direkt in
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